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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten
Autoren: Hillary Jordan
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versteinerten Alyssa Dale – »und alle, die an mich geglaubt haben.« Wieder kam Aidan ins Bild. Seine Gesichtsfarbe war aschfahl. »Doch der Herr ist gnädig! Er hat seine Gnade walten lassen, indem Er mich hierher gebracht hat, an diesen heiligen Ort, und mir diese kostbare Möglichkeit gegeben hat, meine Schande und meinen Hochmut in der Hoffnung auf Rettung offenzulegen. Gelobt sei Sein Name! Sein Wille geschehe!« Plötzlich verzerrte sich Aidans Gesicht, und er griff sich an die Brust. Er taumelte, dann gaben seine Knie nach, und er fiel zu Boden.
    Ein Teil von Hannah fiel mit ihm zu Boden, ihr eigenes Herz verkrampfte sich, ihr eigener Atem verließ ihren Körper. War er jetzt tot? Sie konnte ihn nicht sehen, er war von einer Menschenmenge umgeben, Alyssa, die jetzt weinte, war auch darunter. Irgendjemand – der Leiter des United States Public Health Service – versuchte Aidan mit einer Herzmassage wiederzubeleben, indem er heftig auf dessen Brust drückte. Bildschnitt. Jetzt sah man, wie Aidan auf einer Trage aus der Kathedrale gerollt wurde, während Alyssa, die neben ihm ging, seine Hand hielt. »Die Ärzte im Walter Reed Hospital haben bestätigt, dass Minister Dale einen leichten Herzanfall hatte. Ihrem Bericht zufolge ist er bei Bewusstsein, und seine Werte sind stabil.«
    Bei Bewusstsein. Stabil . Die Worte blieben hängen. Hannahs Herz begann wieder zu schlagen, ihre Lungen weiteten sich und nahmen Luft auf. O Gott, danke , murmelte sie, und dann handelte sie entsprechend, fiel auf die Knie zu Boden, neigte ihr Haupt und betete, dieselben sechs einfachen Worte, immer und immer wieder: Ich danke Dir für sein Leben . Gleichzeitig fiel ihr eine Bewegung um sie herum auf und dann eine betretene Stille. Sie blickte auf und sah, dass alle Anwesenden vor dem Video auf den Knien hockten und ihre Köpfe zum Gebet gesenkt hielten. Für Hannah war dies ein wunderbarer, ein strahlender Moment, dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie nicht nur mit den Menschen hier, sondern mit allen lebenden Kreaturen und Menschen verband: jedem schlagenden Herzen, jedem flatternden Flügel, jedem grünen Keim, der sich aus der Erde an die Luft drängte und sie, die Sonne, suchte.
    Ich danke Dir für sein Leben. Und für meines.
    Sie lief in die weiße Landschaft: kalt, rein, fremd, schön. Ein Vollmond erhellte ihren Weg, tauchte die nackten Zweige der Bäume in Silber und verwandelte den Schnee in einen mit Diamanten gesprenkelten Teppich – so grell wie der Umhang eines Zauberers. Anfangs war die Kälte brutal und schnitt in ihre Lungen, doch nachdem sie fünfzehn Minuten durch den fußhohen Schnee gewatet und aus unsichtbaren Mulden geklettert war, die ihr bis zur Hüfte reichten, begann sich ihr Blut zu erwärmen. Das schneidende Geräusch ihres Atems bildete einen beruhigenden Kontrast zum Schweigen des Waldes.
    Nach einer halben Stunde nahm sie den Ring mit dem Störsender ab und warf ihn, ohne zu zögern, in den Schnee. Sie war sich dessen wohl bewusst, dass sie ohne den Ring zu orten war, nicht nur von den Novembristen, sondern auch von der Grenzpolizei. Sie hatte ihren Rucksack im Lieferwagen gelassen und war damit einem Rat Simones gefolgt, einem Rat, den sie anfangs nicht hatte verstehen können, doch jetzt, wo sie sich unbelastet durch den Schnee kämpfte und nur die Uhr bei sich hatte und die Kleidung, die sie an ihrem Körper trug, begriff sie warum: Du darfst den Weg mit nichts außer dir selbst betreten . Es war richtig und notwendig, dieses Loslassen, diese völlige Preisgabe. Nie zuvor in ihrem Leben war sie so verletzlich gewesen, oder hatte etwas so Kraftvolles gespürt.
    Sie lief weitere zehn Minuten durch den Schnee, dann noch einmal zwanzig Minuten. Ihre Beine schmerzten, und ihre Jeans klebte nass und schwer an ihrem Körper. War das ein Flackern oder Licht vor ihr? Sie blieb stehen und starrte in dessen Richtung, doch es war wieder weg, und als es nicht wieder auftauchte, entschied sie, dass sie sich das nur eingebildet hatte. An diesem unheimlichen Ort war es nicht schwer, Irrlichter und Feenlichter zu sehen, die sie unter einen schneebedeckten Hügel zu einem hundertjährigen tiefen Schlaf bringen würden. Je mehr sie darüber nachdachte, desto verlockender war die Vorstellung: ein Jahrhundert friedlich zu schlafen und danach in einer anderen Welt aufzuwachen, ohne Verchromung, ohne Leiden, ohne Hunger, ohne Gewalt oder Hass.
    Sie zitterte. Wie lange hatte sie an dieser Stelle gestanden?
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