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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten
Autoren: Hillary Jordan
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dass es Gottes Wille sei, wenn der Stoff nicht mehr da wäre. Dann würde sie gehorchen. Aber nicht nur die Kiste stand noch dort, der Stoff war auch um weitere dreißig Prozent reduziert worden. So soll es also sein , dachte sie ohne eine Spur von Ironie. Von Ironie war sie noch acht Jahre entfernt.
    Sechs Jahre lang waren ihr die heimlichen Kleider genug. Sie nähte eines oder zwei im Jahr, verbrachte Monate damit, sich den Schnitt zu überlegen, bevor sie mit der Arbeit begann. Kleider zu designen machte sie irgendwie zufrieden, gab ihr etwas, ihr, die sonst nichts hatte, sie besänftigten ihre innere Unruhe und machten es leichter, den Erwartungen der anderen zu entsprechen und die ihr zugewiesene Rolle auszufüllen. Ihre Eltern lobten sie für ihren plötzlichen Gehorsam und priesen Gott, weil er Hannah den rechten Weg gezeigt hatte. Hannah wiederum war Ihm genauso dankbar. Er hatte ihr ihren Weg gezeigt. Mit diesem Ballen violetter Seide hatte Er ihr einen Kanal für ihre Leidenschaften gegeben, einen, der niemandem Schaden zufügte und mit dem sie es Jahre aushalten konnte.
    Und so war es. Bis sie Aidan Dale traf.
    Jetzt saß sie an die Wand ihrer Zelle gelehnt und wartete auf den Ton fürs Abendessen. Hannah dachte zurück an ihr erstes Treffen an jenem schrecklichen vierten Juli vor zwei Jahren. Ihr Vater führte einen Laden für Sportartikel, und er musste am Unabhängigkeitstag arbeiten. Er war gerade mit dem Zug auf dem Heimweg, als der Selbstmordattentäter ihn und siebzehn andere Menschen in die Luft sprengte. Ihr Vater hatte ganz am Ende des Waggons gesessen und war schwer verletzt worden. Sein Schädel war gebrochen und das Trommelfell geplatzt. Außerdem hatte er viele Wunden von den Nägeln, die der Terrorist mit in die Bombe gepackt hatte. Doch die wohl schlimmste Verletzung betraf seine Augen. Die Chance, wieder sehen zu können, betrage fünfzig Prozent, so die Ärzte.
    Am Tag nach dem Unfall kehrte Hannah gerade mit einem Tablett voller Getränke und Brote aus der Cafeteria des Krankenhauses in das Krankenzimmer ihres Vaters zurück, als sie dort Aidan Dale mit ihrer Mutter und Becca Seite an Seite vor dem Bett ihres Vaters auf Knien sah. Sie flehten Gott an, die Wunden ihres Vaters zu heilen. Hannah hatte ihn unzählige Male zuvor gehört, doch es war etwas anderes, in der sechzigsten Reihe zu sitzen und seinen Worten über Lautsprecher zuzuhören, als ihn persönlich vor sich zu haben und beten zu hören. Seine Stimme war so klangvoll und fesselnd, getränkt von Glauben und Leidenschaft, als wäre sie einzig und allein dafür geschaffen worden, Ihn zu erreichen. Seine Stimme durchströmte heiß ihren Körper, erwärmte sie und nahm ihr die Angst. Sicher würde Gott, könnte Gott die Bitten dieser Stimme nicht ignorieren.
    Sie stellte das Tablett ab und ging zum Bett. Nie zuvor war sie Pastor Dale so nah gewesen, und er sah jünger aus, als sie erwartet hatte. Eine kleine Locke seines hellbraunen Haares fiel über die Braue fast ins Auge, und es juckte sie in den Fingern, diese zurückzustreichen. Beunruhigt – woher kam eigentlich diese Unruhe? – kniete sie sich ihm gegenüber hin. Als er aufsah und sie entdeckte, stockte sein Gebet kurz, dann schloss er die Augen und fuhr fort. Hannah senkte den Kopf und ließ ihr Haar vornüberfallen, um ihre Verwirrung zu verbergen.
    Als er das Gebet beendet hatte, stand er auf und ging zu ihr auf die andere Seite des Bettes. Für einen ängstlichen Moment war alles, was sie tun konnte, auf seine Knie zu starren.
    »Sie müssen Hannah sein«, sagte er.
    Sie stand auf und sah ihn an. Sie nickte. Das Mitgefühl in seinen Augen bewirkte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie schaute auf den Körper ihres Vaters, der in Verbände gewickelt und mit Nadeln und Röhren gespickt war. Die Gestalt unter dem Betttuch schien zu klein, um seine zu sein. Alles, was von ihm zu sehen war, war der obere Teil des Kopfes und ein Unterarm, und als sie sich herunterbeugte, um darüberzustreicheln, hatte sie das Gefühl, einen Fremden zu berühren, dem sie noch nie zuvor begegnet war. Eine Träne kullerte über ihre Wange und tropfte auf ihren Arm, und dann spürte sie, wie die Hand von Pastor Dale ihre Schulter berührte, eine warme und beruhigende Hand. Sie kämpfte gegen das Verlangen an, sich an ihn zu lehnen.
    »Ich weiß, dass Sie seinetwegen Angst haben, Hannah«, sagte er, und sie war verwundert darüber, wie schön ihr Name klang, wenn dieser Mund ihn
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