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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Wohnungstür einen weiteren Spalt. Das Licht kam von drinnen, wo die kalte Nachmittagssonne des Dezembers durch die Fenster der anderen Zimmer schien. Zuerst sah er nichts, dann wurde ihm klar, dass das, was er für das Blumenmuster der Tapete gehalten hatte, in Wahrheit Blutspritzer waren. Er ging hinein, sehr bedacht darauf, wo er die Füße hinsetzte; am Boden erblickte er einen großen dunklen Fleck und mittendrin den Kopf einer Frau, deren Körper von der Tür verdeckt wurde.
    Der Kommissar begriff sofort, dass all das Blut, das er sah, das den Pförtner so erschreckt und Teppich und Tapete beschmutzt hatte, aus dem Hals der Frau gespritzt war, den man ihr mit einer sehr scharfen Klinge durchtrennt hatte. Er betrachtete ihren Gesichtsausdruck, die halbgeschlossenen Augen, den aufgerissenen Mund. In der Blutlache war der Abdruck einer Stiefelspitze zu sehen: Jemand war hereingekommen, aber nicht weitergegangen – wahrscheinlich der Dudelsackpfeifer oder der Pförtner selbst.
    Ricciardi ging einen Schritt vor, wobei er aufpasste, nicht in den Blutfleck zu treten, und lehnte die Tür hinter sich an. Er blickte sich um: Von dem großzügigen und elegant eingerichteten Eingang aus sah man einen Salon mit zwei Sesseln und einem Tischchen. Er betrachtete erneut die Leiche und folgte ihrem leeren Blick.
    In der gegenüberliegenden Ecke, nur zwei Meter von der
Toten entfernt, sah er im letzten Licht des Tages dieselbe Frau stehen, die ihm mit gesenktem Blick zulächelte, als wolle sie ihn als vollendete Gastgeberin herzlich bei sich zu Hause empfangen. Hut und Handschuhe? , fragte sie leise. Ihre Hand war leicht vorgestreckt, um die Kleidung des Besuchers entgegenzunehmen und ihn auf die freundlichste und liebenswürdigste Art hereinzuführen. Hut und Handschuhe?
    Aus der Wunde unter ihrem Lächeln, der von einem bis zum anderen Ohr aufgeschlitzten Kehle, schwappte das Blut in kleinen schwarzen Wellen hervor, tropfte ihr unablässig auf das geblümte Kleid und besudelte ihre Brust aufs grauenvollste. Hut und Handschuhe? , fragte sie wieder. Ricciardi seufzte.
    Etwas weiter von der Leiche entfernt entdeckte er einige dunkle Tropfen auf dem Fußboden, die nicht in dieselbe Richtung gespritzt waren wie das Blut an der Wand. Jemand hatte sich also entfernt, ohne darauf zu achten, dass von seiner Waffe noch Blut tropfte. Ricciardi folgte den Spuren durch den Salon und fand sich im Schlafzimmer wieder.
    Der Anblick, der sich ihm dort bot, war schockierend. Das Bett war von Blut durchtränkt: Die Laken waren ganz schwarz davon, die Flüssigkeit war bis auf den Bettvorleger gelaufen, auch das Kopfteil aus hellem Holz war verschmiert. Am Fußende zwei lange blutige Streifen: Der Mörder hatte die Klinge abgewischt, bevor er den Schauplatz verließ.
    In der Mitte des Bettes und des großen Blutflecks befand sich die Leiche eines Mannes: Ansatz zur Glatze, grau melierter Schnurrbart, er mochte um die vierzig Jahre alt sein. Sein Mund war zu einem letzten Atemzug aufgerissen, die Hände neben den Hüften zu Fäusten geballt. Aus der Masse des Blutes und dem Fehlen sichtbarer Verletzungen schloss Ricciardi,
dass der Mann im Sterben zugedeckt worden war und lange Zeit weiter geblutet hatte.
    Als er nun neben ihm saß, erkannte der Kommissar das Abbild des Toten, der Blut aus unzähligen Verletzungen verlor. Ihm fiel ein Gemälde des heiligen Sebastian ein, das früher im Klassenzimmer seines Gymnasiums gehangen hatte; er erinnerte sich, dass er jedes Mal, wenn ihm im Unterricht langweilig war, die Stiche zählte, die den Körper des Märtyrers durchbohrten, dreiundzwanzig waren es an der Zahl. Nach einer ersten groben Schätzung hatte der Mann im Bett den Wettstreit mit dem christlichen Märtyrer gewonnen.
    Er sagte immer wieder: Ich muss gar nichts und schulde niemandem etwas. Eiskalt, mit gerunzelten Augenbrauen, zusammengebissenen Zähnen, wütendem Blick: Ich muss gar nichts und schulde niemandem etwas. Ricciardi hielt dem Blick des Toten stand, dann kehrte er all dem Blut den Rücken und ging zum Eingang zurück, um Maione hereinzulassen.

    Um nicht Gefahr zu laufen, irgendeinen wichtigen Gegenstand unabsichtlich zu verrücken, verschoben sie die gründliche Inspektion des Tatorts wie immer auf die Ankunft des Rechtsmediziners. Kommissar und Brigadiere ließen also einen nervösen Cesarano an der Wohnungstür zurück und gingen nach unten, um den Pförtner und die Dudelsackpfeifer zu befragen. Sie hatten sie gebeten
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