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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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nicht, Feiertag hin oder her, irgendjemand starb immer, und er durfte sich dann Blut und Verwüstung ansehen.
    Als das Auto durch die Luft geflogen war, hatte er geglaubt zu sterben, und ein Teil seiner Seele hatte das fast gehofft: Es hätte das finstere Leiden beendet, das ihn von jeher heimsuchte.
    Stattdessen bin ich jetzt hier, überlegte er. Wieder in vorderster Linie, als ob nichts geschehen wäre. Als ob ich nicht noch ein Stückchen mehr gestorben wäre, wie jedes Mal, wenn ich herausfinde, wie schwarz eine Seele sein kann.

    Mergellina befand sich im Umbruch: Das abgelegene Fischerdörfchen wurde langsam zu einem eleganten Stadtviertel. Man sah neue Häuser, ein paar Geschäfte, Kindermädchen und Haushälterinnen, Pförtner in Livree, aber auch das Alte hatte überdauert, denn es roch nach ranzigem Kohl und nach Fisch, und Frauen saßen in ihre schwarzen Tücher eingehüllt am Strand, um die Löcher zu stopfen, die das Meer in die Fischernetze gerissen hatte.
    Als die Polizeistreife von Weitem zu erkennen war, rannte
ihr wie üblich ein Pulk Straßenjungen brüllend entgegen. Gemeinsam waren sie die Vorhut und das Sprachrohr aller Ereignisse, jeder Anlass war ihnen recht: Sofort eilten sie herbei, um zu jubeln oder zu jammern, ein Almosen oder einen Happen Essen zu ergattern. Sie waren barfuß und zerlumpt, hatten dunkle, raue Haut und aus ihren zahnlosen Mündern drang ein fortwährender, heiserer Schrei. Ricciardi wich ihnen ohne jede Regung aus, Maione und die beiden Polizisten versuchten, sie wie lästige Insekten zu verscheuchen. Die Kinder halfen ihnen allerdings dabei, ganz ohne nach der Anschrift sehen zu müssen, den Ort des Geschehens zu finden, wegen dem sie hier waren. Es handelte sich um ein neueres Wohnhaus, das ein wenig versteckt lag. Eine kleine Gruppe Neugieriger lungerte vor dem Tor herum und versperrte die Sicht auf den Eingang. Es herrschte eine merkwürdige Stille; der Wind, der vom Meer kam, war kalt und schneidend, aber niemand schien Lust zu haben, sich von seinem Beobachtungsposten zu entfernen.
    Als sie näher kamen, löste sich aus der Gruppe ein Mann mit rotem Gesicht, einer schlecht zugeknöpften Uniform und schief sitzendem Hut. Er näherte sich Maione und fasste ihn am Arm.
    – Brigadiere, Gott sei Dank sind Sie da. Hier gab's ein Blutbad, ein wahres Blutbad! Das können Sie sich nicht vorstellen! Wir haben keine Ahnung, wer das getan haben könnte. Es waren so feine Leute … Und ausgerechnet jetzt, wo es doch bald Weihnachten ist, das versteh' ich nicht, versteh' ich einfach nicht …
    Maione, den der Gestank nach saurem Wein aus dem Mund des Mannes abstieß und dessen Ton ihn nervte, schob ihn von sich weg.
    – Beruhigen Sie sich erst mal. Sonst versteh' ich gar nichts. Lassen Sie mich los, atmen Sie tief durch und sagen Sie mir Ihren Namen und wovon Sie sprechen.
    Der Mann schwieg verblüfft, trat einen Schritt zurück und atmete tief ein.
    – Sie haben recht, Brigadiere, bitte entschuldigen Sie. Ich bin bloß völlig durcheinander. Ich heiße Ferro, Beniamino Ferro, ich bin der Pförtner des Hauses.
    Die Leute hatten sich inzwischen vom Eingang des Gebäudes abgewandt und ihre Aufmerksamkeit auf die Unterhaltung zwischen Maione und dem Pförtner gelenkt; Ricciardi trat zu den beiden.
    – Ich bin Commissario Ricciardi vom mobilen Einsatzkommando und das ist Brigadiere Maione. Sagen Sie uns, was passiert ist.
    Ferro blinzelte, beunruhigt durch Ricciardis Blick und seinen leisen Ton. Vorsichtig flüsterte er:
    – Ich weiß nicht, was passiert ist, Commissario. Das heißt, ich weiß, was ich gesehen habe und … liebe Güte, so viel Blut … aber ich hab' keine Ahnung, wie es passiert ist, das wollte ich sagen. Also, ich hab' nichts damit zu tun, überhaupt nichts. Ich bin nach oben gegangen, als mich der Dudelsackpfeifer rief, um nachzusehen, was los war, bin aber an der Tür geblieben, ich weiß ja, dass man nichts anfassen darf.
    Ricciardi wartete geduldig, dann sagte er:
    – Was haben Sie von dort aus gesehen? Was darf man nicht anfassen?
    – Ich weiß das, weil ich mal auf einer Baustelle auf dem Vomero gearbeitet hab'; ein Kollege ist vom Balkon gefallen und man sagte uns, nichts anzufassen, bis die … na ja, also bis Sie
kommen würden. Die Toten, Commissario. Die Toten auf dem Boden darf man nicht anfassen.
    Die Worte des Mannes fielen in die Stille wie ein Stein in einen Brunnen. Die Umstehenden, die ihnen am nächsten waren, traten einen Schritt zurück.
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