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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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eine Hand auf die Schulter gelegt. Von den beiden ging ein beißender Geruch aus.
    Sie trugen charakteristische Kleidung: spitze Hüte, Schafsfelljacken, Stiefel mit gekreuzten Schnürbändern. Der Junge hielt den Dudelsack im Arm, einen Lederbeutel mit drei unterschiedlich langen Pfeifen, während der Mann seine Schalmei, eine Art doppelte Trompete, auf den Boden gelegt hatte. Die Ruhe des Vaters stand im Gegensatz zum entsetzten Ausdruck des Sohnes, ganz so, als ob auch die Gefühle miteinander musizieren wollten.
    Ricciardi wandte sich an den älteren Mann:
    – Wie heißen Sie? Und woher kommen Sie?
    Überraschenderweise antwortete der jüngere, mit zitternder, doch überzeugter Stimme:
    – Unser Name ist Lupo, Commissario. Ich bin Tullio und mein Vater heißt Arnaldo. Wir kommen aus Baronissi bei Avellino, wir spielen die neuntägige Andacht. Das ist jetzt … war jetzt der dritte Tag, der Freitag vor Heiligabend.
    – Erzähl mir, was passiert ist. Wann seid ihr angekommen?
    – Wir spielen zu unterschiedlichen Zeiten, ganz wie es den Herrschaften gelegen kommt. Man bestellt uns entweder für morgens, nachmittags oder abends. Wir besuchen mehrere Familien, die nicht immer nah beieinander wohnen, sodass wir uns sputen müssen. Signora Garofalo … die arme Frau, mein Gott … hatte uns gebeten, zur Mittagszeit zu kommen, wenn auch ihr Mann da wäre. Ihre Tochter hatte ein bisschen Angst vor uns. Kinder sind schon komisch, manche klatschen in die Hände, stellen sich zu uns und singen, wenn wir spielen, andere haben Angst, halten sich die Ohren zu und rennen weg.
    Ricciardi nickte, er erinnerte sich daran, dass er als Kind den lauten Ton der Schalmei und das dumpfe Dröhnen des Dudelsacks überhaupt nicht mochte.
    – Also war das Mädchen nicht da, richtig?
    – Nein, die Signora hatte uns deshalb geheißen, um eins zu kommen. Und auch, weil ihr Mann dann von der Arbeit zurückkam, er wollte uns nämlich auch hören.
    Maione hörte aufmerksam zu. Er fragte:
    – War das Tor offen, als ihr angekommen seid? Hat euch jemand reingehen sehen?
    Die beiden wechselten rasch einen Blick miteinander, dann
sahen sie fragend zum Pförtner rüber. Maione schaffte Klarheit:
    – Wir wissen schon, dass der Pförtner … beschäftigt war, machen Sie sich also keine Sorgen, Sie bringen ihn nicht in Schwierigkeiten. Bitte antworten Sie. Und sagen Sie die Wahrheit.
    Nun antwortete der Vater mit tiefer, dunkler Stimme, die im Zimmer widerhallte:
    – Es war niemand da. Niemand hat uns gesehen. Wir sind die Treppe hochgegangen. Ich habe geklopft, gefragt, ob wir reinkommen dürfen, aber niemand hat geantwortet. Die Tür war nicht ganz zu, mein Sohn schaute hinein. Dann sind wir runtergegangen, um den Pförtner zu rufen. Das ist alles.
    – Haben Sie jemanden hoch- oder runtergehen sehen? Haben Sie in der Wohnung oder draußen etwas gehört?
    – Nein, nichts. Wir haben nichts gehört und niemanden gesehen.
    Seine Worte klangen abschließend und entschieden. Zwischen den Zeilen hatte der Mann ihnen mitgeteilt: Wir haben nichts mit der Sache zu tun, wir sind zum Arbeiten hier. Ricciardi nickte:
    – Ich verstehe. Also war es Ihr Sohn, der die Leiche der Frau gesehen hat, richtig?
    Der Junge bedeckte seine Augen mit der Hand.
    – Ja, Commissario. Dieses Bild werde ich nie mehr vergessen, die arme Frau in all dem Blut.
    Der Vater drückte ihm die Schulter und sagte:
    – Sie müssen das verstehen, er hat noch nie Blut gesehen, nur das der Osterlämmer. Und auch das findet er furchtbar.
    Maione sah ihm geradewegs in die Augen:
    – Und Sie? Finden Sie das Blut eines Menschen nicht furchtbar?
    Nicht weit entfernt grollte das Meer im Wind.
    – Ich war im Krieg, Brigadiere. An der Front. Und als ich klein war, gab es in unserer Gegend noch Banditen. Nein, das Blut eines Menschen jagt mir keinen Schrecken mehr ein. Schon seit geraumer Zeit nicht mehr.
    Eine weitere Welle erklang wie ferner Kanonendonner. Ricciardi dachte daran, dass er Blut immer noch furchtbar fand, obgleich er so viel davon sah.
    – Geben Sie der Wache Ihre Personalien, einschließlich der Anschrift Ihrer Unterkunft in Neapel und Ihrer Adresse in Baronissi. Verlassen Sie die Stadt nicht, bis wir Ihnen sagen, dass Sie es tun dürfen, kurzum, stehen Sie uns zur Verfügung. Fürs Erste können Sie gehen.

    Als sie wieder allein waren, sagte Maione zu Ricciardi:
    – Sie hatten recht, die beiden gehen zu lassen. Zwar hat niemand sie reinkommen sehen, keiner außer ihnen
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