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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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arme Tier herum aufführte, das sich auf den Steinen des Bürgersteigs wand.
    In wenigen Augenblicken entstand ein heilloses Durcheinander: Die Leute schrien oder lachten, kleine Mädchen brachen in Tränen aus, weil sie von ihren Eltern getrennt worden waren; jeder versuchte, den Aal zu fassen, doch das von Natur aus glitschige und flexible Tier entkam mühelos allen Händen.
    Mit offenem Mund betrachtete Ricciardi das Schauspiel. Er war der Einzige, der sich in der allgemeinen Aufregung nicht vom Fleck rührte.
    Fasziniert sah er dem Aal zu: Er war nicht zu greifen, nicht zu fassen. Der Kommissar sah ihn durch aller Leute Hände rutschen, bis ihn am Ende der Fischverkäufer, der ihn hatte entkommen lassen, mit einem Hechtsprung packte und ihn seinem Schicksal zuführte.
    Zu diesem Zeitpunkt jedoch war Ricciardi bereits verschwunden.

LIII
    Er fragte sich, was ihn bisher daran gehindert hatte, den Mörder zu erkennen; dabei lag alles so klar auf der Hand.
    Eigentlich schon von Anfang an. Und zwar glasklar.
    Er rannte. Die vollen Straßen quollen immer noch über vor lauter Menschen, Verkaufsständen, Essen und Waren.
    Lebende wie Tote, an denen sein Weg durch die Kälte ihn vorbeiführte, waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht zuhörten, nur ihre eigene winzige Welt wahrnahmen, nichts sehen und nichts verstehen konnten.
    Ricciardi hatte denselben Fehler gemacht. Erst jetzt wurde ihm das klar. Er hatte beim Naheliegenden begonnen, dort, wo andere seinen Blick hingelenkt hatten, hatte der Reihe nach
erst an der ersten, dann an der zweiten, dann an der dritten Station angehalten, ohne zu überlegen, dass der Zug auch eine lange Strecke zurücklegen konnte, um schließlich wieder genau am Ausgangspunkt anzukommen.
    Nun ärgerte er sich über sich, weil er von sich selbst abgelenkt worden war. Dabei hätte ich nur einen Schritt zurückgehen müssen, sagte er sich, während er atemlos die Via Chiaia entlanglief und sich seinen Weg durch die Passanten bahnte, die immer noch Schaufenster betrachteten oder lachten und miteinander Belanglosigkeiten austauschten oder auch mit gesenktem Kopf und in Falten gezogener Stirn stumm ihren Gedanken nachhingen. Ein einziger Schritt zurück hätte gereicht, um die Dinge aus der richtigen Perspektive zu sehen, alle Hinweise zu sammeln.
    Er dachte an Rosa, an ihre Tränen, ihr Unbehagen und das Gefühl, unnütz zu sein. Noch einmal ärgerte er sich über sich, über die Unfähigkeit seines Verstandes, die richtigen Verbindungen zwischen den von ihm gesammelten Hinweisen zu ziehen.
    Und jetzt hoffte er inständig, dass es ihm gelingen würde, den Kreis zu schließen, und dass nichts anderes Schreckliches mehr geschehen würde. Er zitterte bei dem Gedanken an das furchtbare Risiko, das sie in den letzten Tagen eingegangen waren, indem sie Trugbildern hinterherliefen. Dabei hatten alle es ihm gesagt, sowohl die Lebenden als auch die Toten. Und Modo hatte recht gehabt: Es hatten zwei Hände zu den Messerstichen angesetzt, mit unterschiedlicher Kraft und aus unterschiedlichen Winkeln.
    Die todbringenden Hände.
    Er begann, noch schneller zu rennen.

    Maione fand sich allein im Strudel der Menschenmenge wieder, die die Via Santa Brigida überschwemmte. Er hatte dagestanden und die Familie Boccia beobachtet, ihren verzweifelten Kampf darum, ihre Ware loszuwerden. Sein Blick hatte irgendwann den von Aristides Frau, Angelina, getroffen; sie hatte ihm kurz zugenickt, ohne ihre Verhandlungen zum Verkauf von zwei Meeräschen an einen knauserigen Herrn mit Schnurrbart zu unterbrechen. Den Brigadiere faszinierte es, wie synchron alle sich bewegten und wie entschlossen sogar Alfonso, Boccias ältester Sohn, aussah, obwohl er ja noch ein Kind war.
    Seine Aufmerksamkeit wurde dann auf den Tumult um die Flucht des Aals gelenkt und er merkte, dass er Ricciardi aus den Augen verloren hatte. Er sah sich um, entdeckte ihn aber nicht. Als er sich gerade fragte, wo der Kommissar abgeblieben sein könne, registrierte er, dass in der Ferne jemand, entgegen der Laufrichtung der anderen Leute, die zum Markt kamen, die Via Chiaia ansteuerte. Verblüfft fragte er sich, was Ricciardi dazu bewegt haben konnte, so plötzlich zu verschwinden, ohne ihn mitzunehmen, und versuchte, die Gedanken seines Vorgesetzten zu rekonstruieren.
    Der Aal, dachte er; der Junge der Boccias, Lomunno; die Miliz.
    Da ahnte er plötzlich Gefahr. Mit entschlossenen Bewegungen bahnte er sich einen Weg durch die Menge.

LIV
    Er
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