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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Finger der Frau.
    – Sie haben recht, Schwester. Der Alltag verbirgt viele Geheimnisse. Wir wissen das leider nur zu gut, da wir mit dem konfrontiert werden, was die Menschen ihresgleichen antun. Deshalb bin ich auch hier, ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Ich habe da so eine Theorie, wer Ihrer Schwester und ihrem Mann diese furchtbare Sache angetan haben könnte. Wie geht es dem Mädchen? Wo ist sie gerade?
    Schwester Veronica zuckte mit den Schultern:
    – Manchmal ist sie traurig. Sie spricht nicht darüber, aber man merkt, dass sie an ihr Zuhause und ihre Eltern denkt. Aber hier geht's ihr gut: Ich bin ja da, die anderen Schwestern haben sie gern und sie hat Freunde, mit denen sie spielen und Spaß haben kann. Sie hat ihrer Mama und ihrem Papa auch einen Brief geschrieben zu Weihnachten, sie glaubt, sie seien verreist, wir haben so getan, als würden wir ihn verschicken.
    Innerlich seufzte Ricciardi erleichtert auf. Zumindest würde das nicht auch noch auf seinem Gewissen lasten. Die Nonne sprach weiter:
    – Sie sagten, dass Sie eine Idee haben, wer diese furchtbare Tat begangen haben könnte?
    Der Kommissar trat näher an die Krippe heran, zu der Stelle, an der sich die Grotte mit der Heiligen Familie befand.
    – Neulich, als ich herkam, um mit Ihrer Nichte zu reden, haben Sie einen Jungen zurechtgewiesen, der sich nicht bekreuzigt hatte, als er am Bild der Heiligen Jungfrau vorbeigegangen ist. Erinnern Sie sich daran?
    Die Frau war zu der Bank mit den Werkzeugen gegangen. Während sie weiter mit Ricciardi sprach, hatte sie begonnen, mit der Hand die Konsistenz eines Stücks Kork zu prüfen, das nicht so fest angebracht war wie die anderen. Sie lächelte.
    – Sicher, ich erinnere mich. Das war Domenico, ein Lausejunge, rennt ständig durch die Gänge, obwohl ich ihm schon tausend Mal gesagt habe, er soll es lassen. Er ist aber nicht boshaft: ein Kind eben.
    Ricciardi nickte. Er betrachtete immer noch die Heilige Familie.
    – Ein Kind, natürlich. Aber ich musste an die Bedeutung der Heiligenbilder denken, an ihren Wert. Ein Heiligenbild
nicht zu ehren ist, wie Sie bei jener Gelegenheit sagten, eine Sünde, eine schwere Sünde.
    Schwester Veronica hatte sich so hingestellt, dass sie weiter mit dem Material hantieren und den Kommissar dabei ansehen konnte. Aufmerksam folgte sie seinen Worten.
    – So ist es, gewiss. Aber es sind doch Kinder, Commissario, es wäre nicht recht, sie hart zu bestrafen, finden Sie nicht?
    Völlig unvermittelt nahm der Kommissar die Figur des heiligen Josefs aus der Grotte heraus und wog sie in seiner Hand.
    – Wenn nun aber ein Erwachsener eine Heiligenfigur aus freien Stücken nicht ehren sollte? Oder, schlimmer noch, sie vorsätzlich zerstören würde?
    Die Frau sah den Polizisten die Unversehrtheit des heiligen Josefs bedrohen und war wie versteinert vor Entsetzen:
    – Commissario, was tun Sie da? Stellen Sie sofort wieder den heiligen Josef an seinen Platz! Sie haben keine Ahnung, wie wertvoll diese Figur ist!
    Ihre Stimme war noch schriller geworden, die Nonne schien Glasscherben im Mund zu haben.
    – Was würden Sie davon halten, Schwester, wenn ich die Figur nun hinwerfen und in tausend Teile zerbrechen würde?
    – Wagen Sie es bloß nicht! Sie dürfen sie nicht einmal anfassen, Sie! Stellen Sie sie sofort zurück!
    Ricciardi verzog keine Miene:
    – Ich tue es aber trotzdem. Warum auch nicht, Sie haben es ja auch getan.
    Zornentstellt stieß die Nonne einen sehr hohen Schrei aus, der sich anhörte wie eine Klinge auf einer Metallplatte. Mit einer plötzlichen Bewegung schnappte sie sich von der Bank ein scharfes Messer und wollte sich damit auf Ricciardi stürzen, doch eine starke Hand hielt ihren Arm fest.
    Sie drehte sich um und erblickte die einhundertzwanzig Kilo schwere Gestalt eines keuchenden Brigadiere.
    – Das würde ich nicht tun, Schwester. An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun.

LV
    Sie hat sich beruhigt. Jetzt erzählt sie, gibt mit kreischender Stimme Haarsträubendes von sich, das in Maiones und Ricciardis Herz und Verstand widerhallt.

    Ich hab' sie nicht zerbrochen! Ich hab' sie nicht hingeworfen, verstehen Sie? Das hätte ich nie getan, und seither bete ich Tag und Nacht dafür, dass niemand im Paradies glauben soll, ich hätte es mit Absicht getan.
    Eine Heiligenfigur zerschlagen, ausgerechnet ich – das würde ich nie tun. Sie ist mir hingefallen, und schuld daran sind bloß diese verflixten Hände. Sie ist mir aus den Fingern
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