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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
Autoren: Ulrike Nolte
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Als erstes sollte sie die
eingerissene Papierwand auswechseln, dann würde es ihr gleich besser gehen. Sie
faltete den Rahmen zusammen, trug ihn zum Recycler ihrer Kabine und stopfte ihn
in den Schredder. Das Geräusch, als das Holz zu Späne zerhackt wurde, passte
genau zu ihrer Stimmung. Sie stellte sich vor, in welche nützlichen
Gebrauchsgegenstände man Lazarus verwandeln könnte, wenn man ihn durch einen
Recycler schickte. Ein liebliches Lächeln breitete sich auf ihrem Sommersprossengesicht
aus.
    Doch leider gab es wenig, worüber
sie sich freuen konnte. Das Besiedlungsprogramm war bereits in eine erste Krise
geraten. Seit gestern Vormittag wurde ein Matrose vermisst. Der Medizinische
Senator hatte ihr öffentlich vorgeworfen, durch die veraltete Tauchkleidung Menschenleben
aufs Spiel zu setzen. Er forderte, das Programm zu stoppen, bis die Designer
eine bessere Ausrüstung entwickelt hatten – unter großem Beifall der Eremiten,
die den Planeten am besten ganz unter Quarantäne stellen wollten. Wie war das
noch? „Es ist der Menschheit gelungen, die eigene Welt unbewohnbar zu machen,
und wir haben kein Recht, dasselbe nun mit einer fremden Welt zu tun.“ Was für
ein Pathos. Das märtyrerhafte Gehabe der Eremiten löste bei Randori nervöse
Zuckungen aus.
    Außerdem konnte sie es sich als
Kapitänin gar nicht leisten, das Besiedlungsprogramm zu verzögern. Schon die
Andeutung hätte genügt, um eine handfeste Revolte ausbrechen zu lassen. In den
übervölkerten Passagierstädten warteten die Menschen ungeduldig auf neuen Lebensraum.
Dort wollte man lieber heute als morgen mit dem Terraforming beginnen. Die Gildenkammer
hatte bereits gedroht, entgegen jeder Tradition in die Regierungspolitik der
Crew einzugreifen und eine Beschleunigung des Programms durchzusetzen.
    Der Recycler blinkte grün, die
Papierwand war in ihre atomaren Bausteine zerlegt worden und befand sich im
Müllspeicher des Schiffes. Randori blinzelte sich in den Strom und übermittelte
ihre Bestellung. Irgendwo begann eine Maschine zu arbeiten, die aus ungeformter
Materie eine neue Wand zusammensetzte. Während sie auf das Ergebnis wartete,
dachte sie wie so oft über Lazarus nach.
    Kaum jemand verstand die seltsame
Beziehung, die sie beide verband. Seit über zwanzig Jahren waren sie Freunde,
berieten und halfen einander. Genauso lange benutzten sie jeden nur denkbaren
Trick, um sich gegenseitig das politische Leben schwer zu machen. Dieser
ständige Wettstreit war zum Hauptinhalt ihres Lebens geworden. Sie brauchten
beide die Herausforderung, um die endlosen, immergleichen Jahre der Fahrt zu
überstehen. Die meisten Antiqui erreichten nicht das Alter, das ihnen
biologisch möglich war. Mit der Zeit wurden alle Erfahrungen oberflächlich,
alles wiederholte sich, nur der Tod blieb ein letztes, unbekanntes Abenteuer
... Aber Randori war sicher, dass der Kommandant nicht ein einziges Mal an
Selbstmord gedacht hatte, seit sie daran arbeitete, ihm den Kapitänsposten streitig
zu machen.
    Der Machtkampf war sein Leben, und
daher war sie auch nicht bereit zu glauben, dass er sich nun tatsächlich in den
Ruhestand zurückzog. Zwar hatte Randori in letzter Zeit besonders erfolgreich
an seinem Stuhl gesägt, aber die ‘Abdankung’ war ein klares politisches
Manöver. Es handelte sich um eine Verteidigungstaktik, die sie aus den
Kampfübungen des randori , des Freien Angriffs, kannte: Wenn der Gegner
einem überlegen war, setzte man nicht Kraft gegen Kraft. Stattdessen ließ man
sich fallen, brachte den Angreifer durch das unerwartete Nachgeben aus dem
Gleichgewicht und riss ihn mit sich zu Boden.
    Ein Piepsignal ertönte, und der
Recycler schob Randori eine neue Papierwand entgegen. Sie faltete das Paket
auseinander und stellte es sorgfältig an seinem alten Platz auf. In diesem
Moment meldete sich ihr Implantat mit einer geheimen Eilnachricht. Die
Botschaft trug Lazarus Signatur. Sie runzelte die Stirn. Ein Vorgefühl
drohender Gefahr beschlich sie.
    Doch das war nicht verwunderlich, denn
geheime Eilnachrichten bedeuteten nie etwas Gutes. Randori ging in ihr
Badezimmer, setzte sich mit gekreuzten Beinen in die Duschkabine und blinzelte sich
in den Strom. Nur an dieser Stelle ihrer Wohnung wurden Daten abgestrahlt, die
für die Kommandantin und niemanden sonst bestimmt waren.
    Privatsphäre war an Bord etwas
weitgehend Unbekanntes, und entsprechend waren auch die meisten Inhalte des
Stroms für jeden frei zugänglich. Das Neuronengeflecht in den
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