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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen
Autoren: Lisa Gardner
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nahm ich mir die Polizeiberichte und Fotos vom Tatort vor, mit dem Ergebnis, dass ich meine Mutter seitdem immer mit diesem seltsam eingefallenen Gesicht vor mir sehe, das in die Kamera starrt, und dem Einschussloch mitten auf der Stirn.
    Ich habe auch noch Fotos von Natalie und Johnny, wie sie mit mir auf der Veranda sitzen, die Arme um meine Schultern gelegt. Wir sehen sehr glücklich aus, doch ich weiß nicht mehr wirklich, wie unser Verhältnis war. Ob ihnen jemals der Gedanke durch den Kopf gegangen ist, jung sterben zu müssen und dass sich keiner der Zukunftsträume erfüllen würde, die sie an jenem sonnigen Nachmittag gehabt haben mochten?
    Dr. Frank sprach in dem Zusammenhang immer vom Schuldgefühl der Überlebenden. «Sie haben an alldem keine Schuld.»
    Die Geschichte meines Lebens.
     
    Ich hatte es gut bei Tante Helen. Sie war über fünfzig, kinderlos und mit ihrem Job als Firmenanwältin verheiratet, als sie mich zu sich nahm. Sie wohnte in einem kleinen Zweizimmerapartment in der Innenstadt von Boston, und ich musste im ersten Jahr auf der Couch schlafen. Das heißt, schlafen konnte ich in diesem ersten Jahr kaum. Sie leistete mir nächtelang Gesellschaft vorm Fernseher. Wir schauten uns Wiederholungen von
I Love Lucy
an und versuchten zu verdrängen, was vor einer Woche, dann vor einem Monat und schließlich vor einem Jahr geschehen war.
    Die Zeit danach war eine Art Countdown, allerdings ohne Ziel, jeder Tag so schlimm wie der vorausgegangene. Und damit musste ich mich abfinden.
    Tante Helen fand Dr. Frank für mich. Sie meldete mich an einer Privatschule an, wo ich viel Aufmerksamkeit bekam, weil die Klassen sehr klein waren. Nach den ersten zwei Jahren konnte ich immer noch nicht lesen, nicht schreiben und nicht rechnen. Mich morgens aufzuraffen war so anstrengend, dass mir für alles andere keine Kraft mehr blieb. Ich hatte keine Freunde und konnte meinen Lehrern nicht in die Augen sehen.
    Krampfhaft versuchte ich Tag für Tag, mir jedes Detail ins Gedächtnis zu rufen: die Augenfarbe meiner Mutter, den Schrei meiner Schwester und das dämliche Grinsen im Gesicht meines Bruders. Darüber zerbrach ich mir den Kopf, in dem für andere Dinge kein Platz blieb.
    Eines Tages dann sah ich einen Mann auf der Straße, der seinem kleinen Mädchen einen Kuss auf die Stirn gab. Eine beiläufige Geste väterlicher Zärtlichkeit. Seine Tochter schaute zu ihm auf, und ihr kleines rundes Gesicht strahlte.
    Das brach mir das Herz, einfach so.
    Schluchzend lief ich durch die Straßen von Boston zurück zur Wohnung meiner Tante. Als sie vier Stunden später nach Hause kam, lag ich auf dem Ledersofa und weinte immer noch. Sie setzte sich zu mir. Gemeinsam weinten wir eine ganze Woche lang, während im Hintergrund
Gilligan’s Island
über den Bildschirm flimmerte.
    «Diese Ratte», sagte sie, als wir schließlich zu weinen aufgehört hatten. «Diese verdammte Ratte.»
    Ich fragte mich, ob sie meinen Vater deswegen hasste, weil er ihre Schwester ermordet hatte oder weil ihr durch seine Tat ein ungewünschtes Kind aufgebürdet worden war.
    Die Geschichte meines Lebens.
     
    Ich überlebte. Und auch wenn ich mich immer nur zu erinnern versuche, lebe ich weiter. Das ist wohl die eigentliche Verantwortung, die Überlebende zu tragen haben.
    Ich wurde älter. Ich machte eine Ausbildung zur Krankenschwester und anschließend einen Aufbaustudiengang Kinderpsychiatrie. Ich verbringe meine Tage auf einer geschlossenen Krankenhausstation in Boston und kümmere mich um einen sechsjährigen Jungen, der Stimmen hört, um ein achtjähriges Mädchen, das sich selbst verstümmelt, oder um einen Zwölfjährigen, der auf gar keinen Fall mit seinen jüngeren Geschwistern allein gelassen werden darf.
    Bei uns werden akute Fälle behandelt. Wir
reparieren
diese Kinder nicht, sondern können allenfalls versuchen, sie zu stabilisieren, dadurch, dass wir geeignete Medikamente für sie finden, für geeigneten Umgang sorgen und eben all jene Tricks anwenden, die sich bewährt haben. Und dann beobachten wir sie. Wir versuchen herauszufinden, wie sie jeweils ticken, und schreiben Berichte für die nächsten Fachleute, die sich ihrer annehmen, entweder im Rahmen eines Wohnprojektes, einer Heimunterbringung oder einer Rückkehr in die Familie unter Aufsicht.
    Manche unserer Kinder machen Fortschritte und entwickeln sich gemäß ihren Möglichkeiten, was wir als Erfolg verbuchen. Es gibt aber auch welche, die später Selbstmord begehen oder
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