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Die Freundin meines Sohnes

Die Freundin meines Sohnes

Titel: Die Freundin meines Sohnes
Autoren: Lauren Grodstein
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Vielfalt der medizinischen Grundversorgung zusagte und weil ich keine Lust hatte, noch mehr Zeit mit einer Ausbildung zu verbringen. Mein Bruder Phil verdiente schon 50 000 Dollar im Jahr, da studierte er noch an der juristischen Fakultät der New York University, ich wollte auch endlich eigenes Geld verdienen. Als Internist, als medizinischer Generalist, konnte ich mich mit allen möglichen Themen befassen, von Gastritis bis hin zur Hämodialyse, lernte, eine Colitis granulomatosa von einer Colitis ulcerosa zu unterscheiden. Besonders komplizierte Fälle überwies ich zwar an Spezialisten, die aber stellten ihre Diagnosen anhand der von mir festgestellten Auffälligkeiten.
    Aber es war nicht bloß der Ehrgeiz, der mich beruflich anspornte, so ist das nur selten. Elaine und ich hatten vier Jahre lang versucht, ein Kind zu bekommen, und wegen ihrer Unfähigkeit, den Embryo zu behalten – oder unserer Unfähigkeit, auch nur ansatzweise aufrichtig über die Angelegenheit zu sprechen –, fühlte ich mich in unserem Schlafzimmer zunehmend verloren und unsicher. Wir hatten Fertilitätsspezialisten konsultiert, die uns sagten, physiologisch sei bei ihr eigentlich alles in Ordnung, und uns rieten, uns einfach zuentspannen. Einfach entspannen? Ich kann mir heute keinen Arzt vorstellen, der so dreist wäre, Derartiges zu sagen – damals aber, 1983, fand ich das einen angemessenen Rat. Entspannen Sie sich, tun Sie, was die Natur Ihnen zu tun vorgibt, und Elaine, überfordern Sie sich in den ersten drei Monaten nicht, laufen Sie nicht so viel herum, okay? Sie hatte diese Ärzte wirklich ernstgenommen, so als wären es Schuldirektoren, Gefängniswärter. Achtzehn Stunden am Tag hatte sie im Liegen zugebracht, war nur zum Essen und zum Duschen aufgestanden. Aber es nützte nichts – acht Wochen später setzte die Blutung ein und hörte erst wieder auf, als wir in der Notaufnahme waren und darauf warteten, dass der Ultraschall bestätigte, was wir bereits wussten. Diese Jahre waren das erste von mehreren Malen in unserer Ehe, dass ich zum Schlafen auf die Couch umzog. Am Abend brachten wir den Sex hinter uns, und dann zog ich mit meiner Decke und meinen Zeitschriften ins Arbeitszimmer. Falls das Elaine etwas ausgemacht hat – und es muss ihr etwas ausgemacht haben –, hat sie jedenfalls nie ein Wort gesagt.
    Alec weiß bis heute nicht, wie sehr er ein Wunschkind war. Und wenn er bei einem Anfall von Teenagerrebellion oder später bei den Auseinandersetzungen über seinen Abgang vom College schrie, er wünschte, nie geboren worden zu sein, hielt Elaine ihm die rudernden Arme fest und sagte: Das darfst du nicht sagen. Das ist das Einzige, was du nie sagen darfst.
    Er wurde am 4. Juli 1985 im Round Hill Medical Center geboren, um 21 Uhr 15. Während wir Alec das erste Mal in den Armen hielten, begann in der Stadt mit Getöse und Lichterzauber das Feuerwerk zur Feier der zweihundertneun Jahre amerikanischer Demokratie und, da waren Elaine und ich sicher, der so lange ersehnten Geburt unseres Sohnes.Und so wurde die Steppe immer größer. An seinem fünfzehnten Geburtstag maß unser Sohn zwar bereits einen Meter neunzig, interessierte sich allerdings leider so gut wie gar nicht – und zwar ziemlich sicher, um seinem Vater eins auszuwischen – für Basketball. Stattdessen begann er Kunstunterricht zu nehmen, sowohl an der Round Hill Ganztagsschule als auch dreimal die Woche abends privat bei einem ortsansässigen Bildhauer. Unser Wohnzimmer füllte sich mit Kirsch- und Palmenholz, aus dem er, in abstrakter Form, Teile des weiblichen Körpers, fast durchweg riesige Brüste, schnitzte. Alec versicherte uns, dass er es ernst mit der Kunst meinte, und wenn unser Haus wie ein Dada-Bordell aussah, na und? Er begann auch Stilleben zu malen: Blumen, Zitronen, seinen I-Pod oder den Inhalt des Abfalleimers im Bad. Einmal machte er eine Skizze von mir, ihm vollkommen ausgeliefert, während ich auf der Couch, schlief. Er zeigte mir das Bild gleich als ich aufwachte. Die Zeichnung machte mich verlegen und brachte mich auf – das war ein Übergriff, war unverschämt, für die Nachwelt festzuhalten, wie der eigene Vater im Schlaf sabbert! Aber die Art, wie er auf Details geachtet, wie er die Karos meines Kragens, die Unebenheiten meiner Haut festgehalten hatte, hatte auch etwas Liebevolles. Ich nahm die Zeichnung in meine Praxis mit und hängte sie dort auf, schämte mich allerdings nach einer Weile, und nahm sie wieder mit nach Hause.
    Alec
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