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Die Freundin meines Sohnes

Die Freundin meines Sohnes

Titel: Die Freundin meines Sohnes
Autoren: Lauren Grodstein
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Jacke um die Schultern und nickt.
    »Ich glaub, ich bleib noch ein Weilchen hier sitzen.«
    Elaine hat sich an mein exzentrisches Benehmen, wie man es wohlwollend nennen könnte, gewöhnt. Achselzuckend steigt sie die Stufen herab und geht leichten Schrittes zu ihrem Auto. Schwenkt ihre Handtasche. Es bricht mir das Herz, sie gehen zu sehen.

KAPITEL ZWEI
    W enn ich zurückblicke, wozu mich meine Lebensumstände des Öfteren veranlassen, kommen mir mein viertes und mein fünftes Lebensjahrzehnt wie eine riesige Steppe vor, nur selten gab es in dieser Landschaft eine Erhebung oder eine Senke. Bert Birch hatte mich in die Praxis reingenommen, weil er auf Mitte Fünfzig zuging und weil seine Frau ihm seit zwanzig Jahren damit drohte, ihn zu verlassen, wenn er sich keinen Partner suchte und nicht wenigstens einmal im Jahr mit ihr Urlaub machte. 1982 war Bert fünfundfünfzig und ein altmodischer Arzt in einer altmodischen Praxis mit einer Arzthelferin, einer Sekretärin und dem halben Mittwoch frei. In seinem Wartezimmer lag die Zeitschrift Popular Mechanics aus, gelegentlich machte er auch schon einmal Hausbesuche. Er führte eine angenehme Hausarzt-Praxis, die sich zwar im Round Hill Medical Center befand, deren Patienten allerdings in der Mehrzahl aus den nicht ganz so schicken Ortschaften weiter südlich im Valley stammten: aus Bergentown, Hopwood, Maycrest Village. Sie waren Lehrer, Postangestellte, Polizisten, Friseure. Bert betreute Generationen derselben Familie, feierte mit ihnen ihre Geburten, betrauerte mit ihnen ihre Toten, bekam in der Weihnachtzeit Körbe voller Obst oder selbstgebackene Torten oder Lambrusco geschenkt. Er übte seinen Beruf damals seit siebenundzwanzig Jahren aus, die Praxis hatte er von seinem Vater übernommen, der sich noch an Zeiten erinnerte, als dort, wo heute das Sunoco steht, Kühe weideten.
    Wir kamen die zehn Jahre, die wir zusammen arbeiteten,sehr gut miteinander aus, ich weiß genau, dass Bert trotz seiner gelegentlichen Schroffheiten väterliche Gefühle für mich hegte. Er machte schlechte Witze. Drohte damit, mich zum Golf mitzuschleppen. MaryJo, seine Frau, lud Elaine und mich oft zu üppigen italienischen Abendessen ein. Sie entstammte einer sizilianischen Familie, die seit vier Generationen in North Jersey ansässig war, und bezeichnete ihre unvergleichliche Tomatensauce als »Fond«. Elaine und ich verputzten, im warmen Licht des weitläufigen kolonialen Esszimmers sitzend, Scungilli marinara, Trippa fra’diavolo , Rigatoni und Hackbällchen in Sauce. Die Birchs hatten fünf Kinder und sechs Enkel, und oft zwängten sie sich mit uns an den Tisch. Elaine und ich sehnten uns nie so heftig nach Kindern wie während der Rückfahrten auf der Maycrest Avenue, pappsatt von MaryJos unglaublichen Gerichten, die Arme noch warm und schwer von dem einen oder anderen kleinen Birch-Enkelkind.
    Als ich mich in Round Hill allmählich wohlzufühlen begann, streckte ich meine Fühler aus, wurde Mitglied beim Jewish Community Center und knüpfte Kontakte zu anderen ansässigen praktizierenden Ärzten. Ich wollte mir einen guten Ruf aufbauen, und, obwohl ich nichts gegen alltägliche Gesundheitschecks und gegen Buchhalter mit Diabetes und unpässliche Sekretärinnen hatte, sehnte ich mich nach besonderen Fällen, nach den komplizierten Diagnosen, die sonst niemand stellen konnte. Ich hatte mich während meines Studiums mit dem Sherlock-Holmes-Virus angesteckt, als ich bei einem vierundzwanzigjährigen Studenten, der glaubte, er hätte bloß einen Wahnsinns-Asthmaanfall und einen schweren Kater, das Goodpasture-Syndrom entdeckte. Ich hatte gerade einen Kurs in Nephrologie absolviert und war daher sowieso schon auf der richtigen Spur. Meine messerscharfe Diagnose hatte dem jungen Mann vermutlich sogar einelebenslange Dialyse erspart. Ich werde ihn nie vergessen: Sein Name war Paul Chung, er studierte Architektur, und wir waren beide genau am selben Tag geboren. Vier Jahre lang schickte er mir immer noch Weihnachtskarten.
    In dieser ersten Zeit blieb ich abends immer lange in der Praxis, hatte noch Sprechstunde, wenn Bert schon längst Schluss gemacht hatte. Anschließend ging ich nach Hause, machte es mir unten im Arbeitszimmer auf dem Sofa gemütlich und wälzte Fachzeitschriften wie das Journal of the American Medical Association oder das New England Journal . Ich suchte nach seltenen Erkrankungen, mit denen ich mich noch nicht befasst hatte. Ich war Internist geworden, weil mir die
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