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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street
Autoren: Katherine Howe
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von eben zu überspielen.
    » Warum nicht? « , fragte ihr Vater mit gespielter Gekränktheit. » Er fühlt sich einsam, wenn er den lieben langen Tag im Salon sitzen muss. Warum kann er denn nicht ab und zu einen Tapetenwechsel haben? Er ist sehr weit gereist, weißt du? Ich habe ihn aus Shanghai. «
    » Ja. « Sibyl rollte mit den Augen. » Du hast es bereits erwähnt. Ein oder zwei Mal. «
    Als hätte er bemerkt, dass er zum Thema des Gesprächs geworden war, breitete der schillernd blaue Papagei seine Schwingen aus, öffnete den Mund und streckte wie ein mittelalterlicher Wasserspeier die Zunge heraus.
    » Sehr ausdrucksvoll, dieses Tier « , meinte Benton zwar höflich, brachte jedoch auch zum Ausdruck, dass er lieber auf Distanz blieb.
    » Diesen Vogel liebt er einfach abgöttisch « , erklärte Sibyl. » Keiner von uns hat das je verstanden. «
    » Stimmt nicht « , widersprach Lan, ging zum Kamin hinüber und schaute zu dem Gemälde empor. » Eure Mutter war immer sehr verständnisvoll, was Baiji anging. «
    » Dabei wollte sie sich bloß seine Schwanzfeder an den Hut stecken « , flüsterte Sibyl Benton zu, der sich ein Lächeln verkniff.
    Lan Allston seufzte » An diesem Gemälde habe ich immer besonders gehangen. Sie wirkt fast wie lebendig. Genau so, wie ich sie in Erinnerung habe. Immer jung. Und immer kurz davor, etwas zu sagen. «
    » Als sie noch lebte, war Mutter in der Tat immer kurz davor, etwas zu sagen « , warf Sibyl halb scherzhaft und halb traurig ein.
    » Nun, das ist wohl das wahre Mysterium des Todes, denke ich « , stellte ihr Vater fest und ließ den Blick über das Bild schweifen. Auch der Vogel schien sich seine verstorbene Herrin genau zu betrachten, während er die schimmernden Flügel wieder am Rücken anlegte. » Denkt nur mal an den jungen Mann, der mit ihnen auf dem Schiff war. Den Bücherwurm. «
    » Wen meinst du? « , fragte Sibyl. Sie hatte Bentons Hand ergriffen und spielte mit seinen Fingern.
    » Der junge Widener. Harry. Dessen Mutter die Bibliothek von Harvard gestiftet hat. «
    » Was für ein großzügiges Geschenk « , bestätigte Benton und kitzelte Sibyls Handfläche mit seinem Ringfinger, als ihr Vater gerade nicht hinschaute. Sie bemerkte, dass Ben seinen Ehering abgelegt hatte. » Ich freue mich wirklich darauf, sie wiederzusehen, wenn ich auf den Campus zurückkehre. «
    Lan Allston gab ein nachdenkliches » Hm « von sich und wandte sich Benton und Sibyl zu. Seine Augen, die sonst so klar und blau waren, wirkten wässriger, als es Sibyl in Erinnerung hatte. Auch ihr Vater wurde älter.
    » Ein wohlhabender junger Mann aus guter Familie « , sagte Lan. » Hat es sich sein Lebtag lang gut gehen lassen, Bücher gesammelt, die Welt bereist. Wenn er so lange hätte leben können wie ich, dann wäre das die Quintessenz seines Lebens gewesen. Familie ist natürlich wichtig. Bürgerpflichten. Wohltätige Arbeit. Ich bin mir sicher, er war ein anständiger junger Mann und wäre auch ein anständiger alter Mann geworden, ohne Zweifel. Irgendwann wäre er zu einem angesehenen älteren Herren geworden, und nach seinem Tode wäre ein Nachruf in der Zeitung erschienen, in dem man all seine Leistungen gewürdigt und die Unzahl persönlicher Verfehlungen tunlichst verschwiegen hätte, ganz gleich, was das für welche gewesen wären. Dann hätten sich seine Kinder ein paar von den kostbaren Bänden genommen, die er so mühsam gesammelt hatte, und dabei mehr auf den Wert als auf den Inhalt geachtet. Der Rest wäre versteigert worden. Und das wäre das Ende gewesen. «
    Er hielt inne, kraulte Baiji unter dem Schnabel. Der Papagei schien zu lächeln und genoss die Liebkosung mit halb geschlossenen Augen.
    Sibyl und Benton wechselten einen Blick.
    » Aber denkt mal « , fuhr ihr Vater fort. » Weil dieser junge Mann auf der Titanic gestorben ist, steht sein Name jetzt für die beste Universitätsbibliothek der ganzen Welt. Seine Arbeit als Sammler ist für undenkliche Zeiten erhalten geblieben, und die Sammlung blieb vollständig. Er hat ein Vermächtnis hinterlassen und sich einen Namen gemacht. In gewisser Weise hätte ihm nichts Besseres passieren können, als dass dieses Schiff unterging. Für das, was er einmal sein wollte. «
    Ihr Vater lächelte sein trauriges und stoisches Lächeln. Sibyl trat neben ihn, hängte sich zärtlich bei ihm ein. Es würde nicht nötig sein, dass Benton ihm sagte, was geschehen war. Er wusste es.
    Er hatte es immer gewusst.
    » Sollen wir essen? «
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