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Die Frau vom Leuchtturm - Roman

Titel: Die Frau vom Leuchtturm - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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meinem Kunststudium stammte, eine Reisetasche und ein wenig Freizeitkleidung auf den Rücksitz meines blauen Volvos. Dann war ich reisefertig. Ohne einen Blick zurück verließ ich die Stadt und das einsame Loft voller bitterer Erinnerungen.
    Wohin wendet man sich, wenn man nirgendwo anders mehr hingehen kann? Wenn man niemanden mehr sehen mag, dem man vielleicht erklären muss, warum man ohne ersichtlichen Anlass plötzlich in Tränen ausbricht? Wenn man allein mit den traurigen Überresten seines einst glücklichen Lebens sein will?
    Ich kenne keinen Ort, der dazu besser geeignet wäre als Freedman’s Cove, Rhode Island.
    Das Dorf schmiegt sich in eine kleine Bucht an der felsigen Atlantikküste nördlich von Newport und ist in der Gegend für seine saftigen Hummer, seinen traumhaften Strand und Dutzende extravagant überladener viktorianischer Häuser bekannt, die die Küste entlang stehen.
    Die »Viktorianer« von Freedman’s Cove, wie sie oft in Reiseprospekten über Neu-England genannt werden, wurden Ende der 1880er Jahre erbaut, zu einer Zeit, als Amerikas Superreiche keine Kosten und Mühen scheuten, um einander an den Stränden von Newport, das nur ein paar Meilen südlich liegt, mit ihren palastartigen Residenzen zu übertreffen.
    Beim Geld und in der Mode ändern sich manche
Dinge nie. Und genau wie heute sind überall da, wo sich die wirklich Reichen versammeln, auch die Neureichen und die, die es gern wären, nicht weit.
    Als also um 1885 Rhode Island die angesagte Sommerfrische für die Megareichen wurde, waren viele wohlhabende Familien, die um ein weniges ärmer waren als die Whitneys oder Vanderbilts, hochzufrieden, sich ihre eigenen kleinen Villen zu bauen, nur ein Stück Strand entfernt von denen, die ihnen finanziell und gesellschaftlich überlegen waren. Und so verließen während der heißen Monate des Jahres die Frauen und Kinder wohlhabender Banker aus dem Osten, von Fabrikbesitzern und Investoren fluchtartig die wimmelnden und ungesunden Städte und tauschten sie gegen das hübsche Küstendörfchen Freedman’s Cove. Dort residierten sie, umsorgt von einem oder zwei Lieblingsdienstboten, von Juni bis September, badeten, segelten, veranstalteten Picknicks und besuchten einander in ihren prachtvollidyllischen viktorianischen Häusern.
    Ihr fleißiges Mannsvolk dagegen blieb in den stickigen, übelriechenden Straßenschluchten von Boston, New york oder Philadelphia zurück, arbeitete hart und kam am Wochenende mit der Eisenbahn, um sich am Meer zu seinen verwöhnten Familien zu gesellen.
    Mehr als hundert Jahre danach haben sich die Konstanten des sommerlichen Lebens in Freedman’s Cove nur wenig verändert. Noch immer flüchten wohlhabende Familien aus der Stadt vor der Hitze und der feuchten Luft und strömen gen Norden, an diesen erholsamen Strand. Heute allerdings treffen sie meist gemeinsam ein - Mom, Dad und die Kinder - und mieten für eine Woche oder länger eines der bezaubernden viktorianischen
Häuschen mit Meerblick, bevor sie, wieder gemeinsam, in ihre modernen, mit Klimaanlagen ausgestatteten Häuser und Wohnungen in der Stadt zurückkehren.
    Heutzutage empfängt Freedman’s Cove dank seiner guten Anbindung an den Highway und vielfältiger Essens- und Unterbringungsmöglichkeiten auch eine neue Art von Kurzzeittouristen: die Tagesausflügler, die nur einen Nachmittag in der Stadt verbringen, oder die Pärchen, die hier romantische Wochenenden verleben.
    Wie immer man sie einteilen will, jedenfalls wandern vom ersten Juni bis Labor Day, also Anfang September, Horden sonnenverbrannter Touristen durch die Harbor Street, lecken an den dreistöckigen Eistüten, die es an der herrlichen Marmortheke von Brewster’s Ice Cream Parlour & Confectionary zu kaufen gibt, oder blinzeln durch die Fenster des Ancient Mariner Nautical Emporium. Alle legen sie einen Stopp in Cora’s Olde Tyme Fudge Shoppe ein und halten an, um die taiwanesischen Hummelfiguren bei Shelly’s Victorian Gifts anzufassen. Und die meisten gehen zum alten Pier hinunter, um die Hummerfischer zu sehen, oder mieten Fahrräder, um durch schattige Straßen voller bunt getünchter viktorianischer Häuser zum historischen Leuchtturm auf Maidenstone Island zu fahren.
    Manchmal kommen sie auch nur einfach ins Dorf gefahren, um bei Krabb’s Seafood House am Kai zu essen.
    Die Touristen haben sich also während der vergangenen hundert Jahre sehr verändert, aber eines in Freedman’s Cove ist gleich geblieben: Wenn der Sommer
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