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Die Frau vom Leuchtturm - Roman

Titel: Die Frau vom Leuchtturm - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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war, und fragte, wer in aller Welt sie sei. Denn ich konnte mich nicht erinnern, ihr Gesicht schon einmal in der Ahnengalerie unserer Familie gesehen zu haben.
    Die alte Dame schaute finster drein, und die Teetasse zitterte leicht in ihrer gebrechlichen Hand. »Sie ist noch vor meiner Geburt auf und davon nach New york. Muss um 1910 oder so gewesen sein«, murmelte sie finster. Dann flüsterte sie mit ihrer dünnen, krächzenden Stimme so leise, dass ich mich vorbeugen musste, um sie zu verstehen: »Es heißt, sie hätte dort unten ein Techtelmechtel mit einem Mann gehabt«, fuhr sie fort und warf mir aus ihren wässrigen grauen Augen einen bedeutsamen Blick zu. »Einem Bohemien und Künstler, der Bilder von nackten Frauen malte …«
    Ich lachte, denn mit einem Mal begriff ich, dass das mysteriöse Foto mich vor meiner gegenwärtigen romantischen
Verblendung warnen sollte. »Bobby ist ein wunderbarer Mann, und ich habe kein ›Techtelmechtel‹ mit ihm, wie du das so schön ausdrückst. Wir lieben uns sehr und werden wahrscheinlich bald heiraten …«
    »Das hat dieser Bohemien ihr auch versprochen, aber ich kann dir versichern, dass solche Männer nicht heiraten«, erklärte sie und warf durch das Fenster einen vielsagenden Blick in Richtung Insel. Dann folgte ein langes Schweigen, währenddessen Tante Ellen betrübt den Kopf schüttelte und auf das hübsche, ernste Gesicht hinabschaute, das uns vor dem sepiafarbenen Hintergrund des alten Atelierfotos ansah.
    »Ihr Vater - also George, der Onkel meiner Mutter - ist mit dem Zug die ganze Strecke nach New york gefahren und hat sie angefleht, nach Hause zu kommen«, fuhr sie schließlich fort, »um der Schicklichkeit und des Namens der Familie willen.« Und Tante Ellen hatte noch einen letzten Blick auf das alte Foto geworfen und es mir dann schroff aus der Hand gerissen.
    »Was ist aus ihr geworden?«, fragte ich. Jetzt war ich wirklich neugierig. Denn die skandalöse Geschichte, ja sogar die Existenz der anonymen jungen Frau auf dem Bild war offenbar ein seit Generationen streng gehütetes Familiengeheimnis.
    »Es hat ein böses Ende mit ihr genommen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen«, schloss die alte Dame stur. Ihr düsterer, endgültiger Ton besagte, dass ein unaussprechliches Schicksal das vom Weg abgekommene Mädchen ereilt hatte.
    Dann hatten sich, als wäre eine Glühbirne eingeschaltet worden, Tante Ellens blutleere Lippen plötzlich zu so etwas wie einem Lächeln verzogen, das
unangenehm das rosafarbene Plastik-Zahnfleisch ihres Gebisses zur Schau stellte. »So, und jetzt«, sagte sie und steckte das skandalöse Foto wieder in das Album, aus dem sie es genommen hatte, »erwartet dieser Bursche, den du da angeschleppt hast, wie hieß er noch mal, wahrscheinlich, dass ich ihm zum Essen hiesige Spezialitäten auftische.«
    »Tante Ellen«, warf ich erbost ein, »da du mit Absicht dieses alte Foto herausgekramt hast, um deine antiquierte und prüde Ansicht darüber, dass Bobby und ich miteinander schlafen, zu begründen, kannst du mir wenigstens erzählen, wer das Mädchen war und was aus ihr geworden ist.«
    Mein schroffer Angriff hatte die alte Dame sichtlich erschüttert. Sie setzte ihre durchscheinende Porzellantasse auf dem herrlichen Silbertablett ab und stand langsam auf. »Also, Miss Susan Marks, ich habe nicht die geringste Ahnung, was du von mir willst«, erklärte sie unschuldig. »Und es steht dir nicht zu, mir gegenüber derart die Stimme zu erheben, junges Fräulein.«
    »Den Namen, Tante Ellen! Wie hieß das verdammte Mädchen?«, schrie ich sie frustriert an.
    Das Blut stieg ihr ins Gesicht und konzentrierte sich in zwei hochroten Flecken auf ihren dick gepuderten Wangen. »Der Name dieser abscheulichen Person ist in diesem Haus seit über achtzig Jahren nicht mehr ausgesprochen worden«, zischte sie zur Antwort. »Und ich habe nicht vor, jetzt damit anzufangen.«
    Dann hatte sie mir, ohne auf eine Reaktion von mir zu warten, ihren gebeugten alten Rücken zugewandt und war in ihre weiß getünchte Küche davongehumpelt, wobei sie etwas Belangloses über den gekochten Hummer
und die Pastinaken, die sie zum Abendessen zubereiten wollte, vor sich hin murmelte.
     
    Kurz nachdem Bobby an diesem Nachmittag von seinem Ausflug zum Leuchtturm zurückkehrte, verließen wir Freedman’s Cove. Während ich wütend unser Gepäck ins Auto warf, stand Tante Ellen auf ihrer Veranda und tat stur so, als hätte sie keine Ahnung, womit sie uns vertrieben
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