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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Autoren: Simon Mawer
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sie, »das stimmt.«
    »Gut«, sagt er. »Vernünftige Entscheidung.«
    Der Zug fährt in einen Bahnhof. Veretz-Montlouis steht auf dem Schild. »An der nächsten Station steigen wir aus«, sagt Gilbert. »In ein paar Minuten.«
    Clément legt einen Arm um sie. »Wir haben’s fast geschafft, Äffchen.«
    Gilbert beobachtet sie nachdenklich. Draußen auf dem Bahnsteig schrillt eine Trillerpfeife. Ist jemand ein- oder ausgestiegen? Dieser stille Winkel des ländlichen Frankreichs scheint ein ganzes Universum weit weg von Paris, niemand ist auf dem Bahnsteig zu sehen, kein Menschengedränge, keine Angst. Der Zug fährt mit heftigen asthmatischen Atemzügen weiter, als würde er zum ersten Mal seit Wochen wieder frische Luft atmen. Rechter Hand, hinter ihren blassen Spiegelungen in den Fenstern, erstreckt sich die flache Auenlandschaft zwischen Loire und Cher, überhaucht von einer untergehenden Sonne. Der Himmel leuchtet blau wie das Blau in einem Buntglasfenster, und in dem schräg fallenden Licht ragen Pappeln auf wie Federn.
    IV
    In Azay-sur-Cher stehen die Fahrräder bereit, vier Stück, in einem Schuppen hinter dem Bahnhof, genau wie Gilbert gesagt hat. Er führt das überschüssige am Lenker neben sich her, während sie fahren – »Das brauchen wir für die ankommenden Passagiere« –, und zum ersten Mal denkt Alice an die andere Seite der Operation, dass jemand herkommen wird, vielleicht Leute, die sie von der Ausbildung kennt, Leute aus einer Welt, die nur ein paar Flugstunden mit einer leichten Maschine entfernt ist, einer Welt, wo du nicht über die Schulter blickst, um nach möglichen Verfolgern Ausschau zu halten, wo du nicht aufpassen musst, was du sagst, wo Angst keine endemische Krankheit ist, die Verstand und Körper zerfrisst. Wo nicht fünfhunderttausend Francs auf deinen Kopf ausgesetzt sind und du nicht wegen Mordes gesucht wirst.
    Sie radeln in die zunehmende Dämmerung hinein, über einen Bahnübergang und durch die Felder, vorbei an Äckern und Viehweiden, immer wieder unterbrochen von kleinen Waldungen. Pappeln sind als Windschutz gepflanzt, Weiden säumen einen Kanal. Durch die Bäume im Osten sehen sie den Mond aufgehen, eine knochenweiße Kugel, die den schwindenden Sonnenschein durch eine andere Art von Licht ersetzt, ein mattes Monochrom. Dass dich des Tages die Sonne nicht steche , denkt sie, noch der Mond des Nachts . Es ist fast ein Gebet, aber nicht ganz, denn sie glaubt nicht an Gebete, glaubt nicht an Gott, glaubt nur an die Macht des Bösen und den schwachen Kampf von Männern und Frauen dagegen.
    Nach rund zwei Kilometern biegen sie auf einen Feldweg, voller Furchen und Schlaglöcher, bis sie schließlich zu einem Wäldchen kommen, wo Gilbert anhält. Hinter den Bäumen erstreckt sich in östlicher Richtung eine Magerwiese, so flach wie ein Billardtisch. »Sieht ganz in Ordnung aus«, sagt er. »Vor ein paar Monaten mussten wir eine Operation abblasen, weil ein Bauer da seine Kühe hat grasen lassen, aber heute Abend scheint es keine Probleme zu geben. Meine einzige Sorge ist, dass Nebel aufkommen könnte. Drücken wir die Daumen.«
    Auf einer Seite der Wiese ist eine morsche Scheune. Heu liegt in einer Ecke gestapelt, eine verrostete alte Egge steht neben ein paar anderen namenlosen landwirtschaftlichen Geräten, an einem Haken hängt ein abgewetztes ledernes Pferdegeschirr. Gilbert scheint sich auszukennen, fast so, als wäre er hier zu Hause. Aus einem Bündel Zaunpfähle wählt er drei aus, etwa einen Meter zwanzig lang und an einem Ende angespitzt. »Gehen wir und bereiten alles vor.«
    Es ist noch hell genug, um die Umgebung sehen zu können, als sie wieder hinaus auf die Wiese gehen. Nach hundert Metern bleibt er stehen und hebt einen Finger in die Luft, wie ein Wünschelrutengänger, der Dinge wahrnimmt, die mit normalen menschlichen Sinnen nicht zu erfassen sind. Dann rammt er feierlich einen Pfahl in den Boden und marschiert mit ausladenden Schritten weiter, als würde er ein obskures, heiliges Ritual durchführen. Als er erneut stehen bleibt und den zweiten Pfahl aufstellt, können sie ihn nur noch als undeutlichen Schatten sehen. Er schreitet nach rechts, stößt den dritten in die Erde und kommt zu ihnen zurück. Sein Gesichtsausdruck verrät, dass er mit seiner Arbeit zufrieden ist. »Jetzt können wir nur noch warten.«
    Sie gehen wieder in die Scheune und machen es sich so bequem wie möglich, packen die Verpflegung aus, die sie mitgebracht haben, und trinken
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