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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Autoren: Simon Mawer
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dazu sagen? Oder ihre Mutter? Sie kann sich den Entsetzensschrei vorstellen, als wäre es eine Schande, eine gesuchte Kriminelle zu sein, ganz gleich unter welchen Umständen.
    Und sie ist hier, obwohl die halbe Pariser Polizei nach ihr sucht und eine Prämie auf ihren Kopf ausgesetzt ist. Sie hätte den freien Platz in der Lysander nehmen und mit zurück nach England fliegen können. Sie wäre in Sicherheit gewesen, wirklich in Sicherheit. Wäre das etwa eine Schande gewesen? Keine Blicke über die Schulter mehr werfen, nicht mehr mit diesem Angstflattern in der Magengrube leben zu müssen. Und schlafen, sie hätte schlafen können. Stattdessen ist sie hier, irgendwo in Frankreich.
    Der Zug rattert weiter, hält an jedem Bahnhof, Reisende steigen ein und aus, Trillerpfeifen schrillen, Reisealltag im Herzen Frankreichs. Vierzon kündigt sich mit klackernden Weichen an, mit einem Seitwärtsruck des Waggons, mit zahllosen Nebengleisen, endlosen Reihen von Güterzügen die auf die Abfahrt warten, und mit einer Stimme aus der Lautsprecheranlage, die »Vierzon ville « ansagt. Wo Julius Miessen damals in den Zug gestiegen ist. Julius Miessen, der sie durch Paris verfolgt hat. Ihre Nemesis. Sie zieht ihren Koffer vom Gepäcknetz und schlurft über den Gang hinter den anderen Passagieren her. Jemand hilft ihr nach unten auf den Bahnsteig und wünscht ihr »Bon voyage, Mam’selle«, und sie lächelt dankbar. Der Zug nach Toulouse wird an Bahnsteig zwei einfahren.
    Toulouse bedeutet Benoît.
    Clément und Benoît. Wie konnte ihr das passieren, ihr, der ehemaligen Klosterschülerin, die ihre Jungfräulichkeit bewahrte, bis sie zwanzig Jahre alt war, dem jungen Mädchen, dessen sexuelle Sehnsüchte stets von Schuldgefühlen getrübt waren? Zwei Männer in wenigen Tagen Abstand. Genau das, was sie immer entsetzt hat. Promiskuität, Laszivität, Sünde – ein ganzer Wortschatz der Unmoral. Vielleicht liegt es an dem unnatürlichen Leben, das sie führt, an ihrer Persönlichkeit, die zwischen Alice und Marian gespalten ist, wobei die eine tut, was die andere ignorieren kann. Erschaffe dir eine Tarnung für jeden Eventualfall. Sei für dich selbst real. Lebe die Person, die du vorgibst zu sein.
    Laurence Follette, Studentin, die für eine Woche zu Besuch bei Freunden in Paris war und jetzt auf der Rückreise in den Südwesten ist. Laurence Follette, matt vor Müdigkeit, schleppt ihren Koffer hinüber zu Bahnsteig zwei und denkt an Clément, an eine Bombe, die riesige Städte in Schutt und Asche legen kann, an Benoît, wie er nackt vor ihr steht, als wäre Nacktheit das Natürlichste von der Welt.
    Sie könnte in England sein. Jetzt, in diesem Moment, in England.
    Sie döst auf einer unbequemen Bank ein, versucht, wach zu bleiben für die Zugdurchsagen. Der Kopf fällt ihr auf die Brust, fährt dann ruckartig wieder hoch.
    Yvette. Hat Yvette sie wirklich verraten? Yvette, die Mutter, die von ihr bemuttert wurde. Yvette, die mit Emile geschlafen hat. Früher einmal wäre die Vorstellung unmöglich gewesen, doch jetzt scheint irgendwie alles möglich, selbst eine Stimme, die sie aus dem Schlaf ruft und sagt: »Marian? Marian Sutro?«
    »Ja?«, sagt sie auf Englisch.
    Es ist der älteste Trick der Welt. Die Tücke der Zweisprachigkeit, der Augenblick, in dem der falsche Schalter umgelegt wird, die falsche Antwort gegeben, das falsche Wort geäußert.
    Yes statt oui .
    Sie ist nicht Marian Sutro, sie ist Laurence Follette, Studentin, wohnhaft bei Toulouse.
    Ja.
    Sie blickt sich um, und da stehen sie, zwei Männer in dunkelblauen Anzügen und schweren Mänteln, und zwischen ihnen, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen, die Elsässerin.
    Es ist wie die Kugel, die dich trifft – du hörst den Schuss nicht, der abgefeuert wird. Sie will von der Bank aufstehen, aber es ist zu spät, viel zu spät. Jemand hat sie bereits am Oberarm gepackt und hält sie fest. Es kommt zu einem kurzen Gerangel, als ihr Handschellen angelegt werden, während andere Reisende gleichgültig zuschauen. Eine junge Frau, die festgenommen wird. So was passiert andauernd. Wer weiß schon, warum? Wen kümmert es?

NACHWORT
    Vom Mai 1941 bis zum September 1944 schickte die französische Sektion der Special Operations Executive fünfzig Frauen in den Einsatz. Zwölf von ihnen wurden von den Deutschen verhaftet und ermordet, eine andere starb während ihrer Mission an Meningitis. Die übrigen überlebten den Krieg. Einige dieser Frauen erlangten durch Filme und
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