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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Autoren: Simon Mawer
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weggerissen. Sie lässt den Blick über die Wiese schweifen, fahl im Mondlicht, wie abgestorbenes Fleisch. Und das Dröhnen des Motors vor ihr, der mit Sturmstärke auf sie einschlägt. Gilbert steht unter dem Cockpit und schaut zu ihr hoch. »Beeilung!«, formt er mit den Lippen.
    Sie muss daran denken, wie die Zeit sich verlangsamte, als sie die Männer in Belleville erschoss. Die Formbarkeit von Zeit, die Relativität von Zeit, dass die ganze Welt in dem Moment langsamer war und wie schnell sie jetzt ist – der dröhnende Motor, der Propeller eine verschwommene Scheibe, zweigeteilt durch ein Schwert aus Mondlicht, während die Sterne über den Himmel toben – und diese große Stille in ihr. Die Männer am Boden schauen neugierig zu ihr hoch, die Gesichter weiße Daumenabdrücke der Verwunderung.
    Sie klettert die Leiter hinunter und springt auf die Wiese. Vom Glashaus des Cockpits blickt Clément herunter, das Gesicht verdeckt durch die Sauerstoffmaske, die Augen starr auf sie gerichtet. Der Ausdruck in ihnen ist schwer zu lesen. Bloße Kugeln aus Gallert und Knorpel. Sie schüttelt den Kopf.
    » LOS !«, brüllte sie in den Luftstrom des Propellers. Und gestikuliert mit der Hand nach vorne. »LOS! LOS! LOS!«
    Gilbert läuft von der Maschine weg. Der Pilot hebt den Daumen. Der Motor wird lauter, dröhnt und wütet in der Nacht, zerrt für einen Moment gegen die Bremsen, ehe die Lysander mit einem Ruck anrollt, rumpelnd, nickend, Fahrt aufnimmt, während Clément aus dem Cockpit nach unten blickt, sein Gesicht kaum mehr als ein Schattenklecks. Dann ist er weg, und plötzlich ist das Flugzeug in der Luft, gewinnt mit ausgebreiteten Flügeln an Höhe, eine Fledermausgestalt vor der Dunkelheit, steigt empor, dreht, schwingt durch die Sterne hindurch und lässt Alice zurück, die im Luftsog des Flugzeugs steht, mit wehenden Haaren und flatterndem Mantel. Und sie ist in Tränen aufgelöst, weint verdammte, blöde, alberne, mädchenhafte Tränen.

VIERZON
    Sie ist allein. Sie sitzt in der Ecke eines Abteils mit zwei anderen Passagieren, aber sie ist allein. Um sich wach zu halten, betrachtet sie die vorbeiziehende Landschaft, die flachen Auen des Cher, die weiten Eb’nen Frankreichs. Doch die Müdigkeit schleicht sich in sie hinein wie ein Dieb und stiehlt ihr die Wachheit. Sie schläft ein, hört das Dröhnen eines Flugzeugmotors in den Ohren, schreckt wieder hoch. Ihre Mitreisenden haben etwas zum Lesen zur Hand genommen. Sie schaut zu, wie die Bäume und Wiesen vorbeigleiten. Misteln stecken kugelig im nackten Geäst. Auch auf dem Friedhof waren Misteln, oben in den Bäumen, als sie sich mit Yvette getroffen hat. Was hat die Mistel für eine Bedeutung? Die Druidenpflanze. Die Pflanze, die den nordischen Gott Baldur tötete. Küsse zur Weihnachtszeit, ein Kuss, den sie Clément stahl. Sie döst, träumt, sieht sich selbst, wie sie in der Dunkelheit rennt, spürt Cléments Körper an ihrem.
    Was bedeutet das für die Zukunft? Wie lange währen solche Dinge? Werden sie sich als bloße Freunde wiederbegegnen, oder wird da noch immer dieses atemlose Verlangen sein? Wer weiß? Die Zukunft ist etwas Ungewisses, gefährdet durch die Gegenwart, durch den Krieg, durch ihr eigenes seltsames Leben hier in dem dumpfen und geschundenen Land, zu dem Frankreich geworden ist. Die Zukunft ist unwichtig. Wichtig ist dieser Zug, der durch die französische Landschaft zuckelt, und die Erschöpfung, die sie beschleicht.
    Sie denkt an Benoît. Lust ist etwas Primitives, Körperliches, und bewirkt, dass sie sich unbehaglich fühlt, hier in einem Abteil mit Fremden. Können sie ihre Lust wittern? Strahlt sie von ihrem Körper in die Luft aus?
    Clément wird inzwischen in England sein. Wie werden sie mit ihm umgehen? Der Mann namens Fawley. Kowarski, der russische Bär. Und Ned, der vermutlich herangezogen wird, um Clément gründlich zu befragen, so wie er 1940 Kowarski befragt hat; Ned, dessen Rolle in dieser ganzen Geschichte so rätselhaft ist wie die Physik, die sie alle erforschen, eine Welt der Ungewissheit, die dennoch Gewissheit erbringt – eine Bombe, die die Welt in Stücke sprengen wird.
    Unterdessen sitzen die anderen – Gilbert und der Mann namens David und der zweite Agent, der aussah wie ein Ganove – bestimmt längst im Zug nach Paris, auf dem Weg zum Gare d’Austerlitz, wo Plakate mit ihrer Beschreibung hängen und einer ausgesetzten Belohnung für ihre Ergreifung. Fünfhunderttausend Francs.
    Was würde ihr Vater
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