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Die Fluchweberin

Die Fluchweberin

Titel: Die Fluchweberin
Autoren: Brigitte Melzer
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gebacken hatte. Das Bild war die einzige Erinnerung, die mir an meine Eltern geblieben war. Es war nicht immer in einem Rahmen gewesen, weshalb es mittlerweile verblichen und teilweise auch zerknittert war, doch ganz egal, wie alt es auch wurde, ich wurde niemals müde, es immer und immer wieder anzusehen. Die Wärme in Moms Augen und das schelmische Funkeln in Dads Blick hatten mir schon oft über meine Einsamkeit hinweggeholfen. Wenn ich uns drei ansah, glaubte ich das übermütige Gelächter beinahe zu hören, das an diesem Tag unser Haus erfüllt hatte. Dann war es, als wären sie immer noch bei mir. Und irgendwie würden sie das auch immer sein, denn wenn ich mich im Spiegel betrachtete, schien ich die perfekte Mischung aus beiden zu sein. Zumindest hatte ich Moms helle Haut und ihr rotbraunes Haar geerbt und Dads grüne Augen. Ich strich mit den Fingerspitzen über das Foto und stellte es wieder auf den Nachttisch zurück. Die Vergangenheit konnte ich nicht mehr ändern, ebenso wenig wie die Gegenwart, die ganz schön kompliziert war. Aber die Zukunft gehörte mir. Denn auch wenn das Leben im Internat schwieriger war als an einer normalen Schule, so war ich dennoch dankbar, dass ich hier sein durfte. Holbrook Hill war eine angesehene Schule, deren Abschluss mir gute Chancen auf einen vernünftigen Job oder ein weiterführendes Studium eröffnen würde. Wenn ich erst erwachsen und finanziell unabhängig war, konnte ich mein Leben gestalten, wie ich wollte. Ich konnte mich abschotten und mir sogar einen Job suchen, der sich von Zuhause aus ausüben ließ. Ich wäre Herr übermein eigenes Leben. Und solange ich auch weiterhin darauf achtete, dass niemand hinter mein Geheimnis kam, war ich in Sicherheit.

 2 
    Wie jeden Morgen war ich eine der Ersten beim Frühstück. Ich saß bereits an einem der abgelegeneren Tische vor einem Teller mit Rührei und Toast, als sich der Speisesaal langsam füllte. Unterhaltungen und Gelächter, gepaart mit Geschirrklappern drangen bis unter die hohen Decken des gotischen Saals, verdrängten die Stille und machten selbst dem letzten Morgenmuffel klar, dass der Tag unwiderruflich angebrochen war.
    Es dauerte nicht lange, bis sich Mercy, Ty und Lily mit ihren Tabletts und der üblichen aufgekratzten Begrüßung zu mir an den Tisch gesellten. Meine Freunde. Oder besser: die Leute, in deren Gesellschaft ich mich halbwegs sicher fühlte.
    Ich hatte schon früh die Erfahrung gemacht, dass es gefährlich war, mich anderen anzuvertrauen. Trotzdem war ich einmal in Versuchung geraten. Vor zwei Jahren, als ich noch in London lebte und dort zur Schule ging, war ich bis über beide Ohren in einen unglaublich süßen Jungen verschossen gewesen. Sein Name war Jake, und schon kurz nachdem wir angefangen hatten, miteinander auszugehen, hatte sich meine Welt nur noch um ihn gedreht. Die Chemie zwischen uns stimmte und seit dem Tod meiner Eltern hatte ich mich nicht mehr so gut aufgehoben gefühlt. Schließlich beschloss ich, ihm von meinen Fähigkeiten zu erzählen. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, immerhin musste Mom meinem Dad auch irgendwann von ihrer Magie erzählt haben. Abgesehen davon vertraute ich ihm.
    An dem Tag, an dem ich es ihm sagen wollte, wurde ein Junge aus unserer Klasse von der Magiepolizei abgeholt.Als sie ihn aus dem Schulhaus zum Wagen führten, stand Jake neben dem Eingang und beobachtete das Spektakel. Das zufriedene Lächeln in seinen Zügen war erschreckend gewesen, wahrhaft entsetzt hatte es mich jedoch, als sich einer der Polizisten im Vorübergehen bei ihm für den Tipp bedankte.
    Der Junge, den sie abgeholt hatten, kam nie wieder.
    An diesem Tag begriff ich, dass ich selbst den Menschen, die ich mochte, nicht vertrauen durfte.
    Meine erste Reaktion war es gewesen, mich von allen abzusondern. Ich fand jedoch schnell heraus, dass gerade Außenseiter und Einzelgänger gefährdet waren, der Magie­polizei gemeldet zu werden. Die bloße Tatsache, dass die Leute nichts über sie wussten, machte sie verdächtig.
    Im Laufe der Zeit erkannte ich, dass ich am wenigsten Gefahr lief, verdächtig zu erscheinen, wenn ich irgendwo dazugehörte. Seitdem hatte ich mich, wann immer ich an einen neuen Ort kam, einer Gruppe angeschlossen. Menschen, die mich als ihre Freundin bezeichneten und von denen ich behauptete, dass sie meine Freunde waren. Die Kunst war es, sich Menschen auszusuchen, die ich zwar mochte, aber nicht so sehr, dass ich Gefahr lief, mich ihnen zu öffnen. Das war
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