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Die Fluchweberin

Die Fluchweberin

Titel: Die Fluchweberin
Autoren: Brigitte Melzer
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mir niemand ansehen, was mich quälte. Trotzdem war ich froh, dass ich das Zimmer für mich allein hatte. Es fiel mir auch so schon schwer genug, mich einzufügen. Im Heim und bei meinen früheren Pflegefamilien war es einfacher gewesen. Viele Heimkinder wurden von schlimmen Erinnerungen geplagt, sodass sich dort zumindest niemand über Albträume wunderte. Auch in meinen früheren Schulen war es leicht gewesen, die Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten. An einem Ort, den man morgens aufsuchte und nachmittags wieder verließ, stellten nur wenige Leute Fragen. Erst recht nicht, wenn man wieich gelernt hatte, unauffällig zu sein. Seit ich nach Holbrook Hill gekommen war, hatte sich das geändert. Ich war das erste Mal in meinem Leben in einem Internat, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich gut darauf verzichten können. An einem Ort, an dem man es rund um die Uhr mit Lehrern und Mitschülern zu tun hatte, war es schwer, ein Geheimnis für sich zu behalten.
    Ich ging zum Fenster und schob es auf. Ein Schwall feuchter Herbstluft fegte in den Raum und ließ mich schaudern. Draußen war es noch dunkel, die Wälder, die auf der anderen Seite der Mauer an das Internatsgelände angrenzten, waren von tief hängenden Nebelschwaden durchzogen und der Boden mit einer dünnen Schicht Reif bedeckt. Der Winter kam näher und mit ihm die Zeit, in der ich mich am einsamsten fühlte.
    Ich ließ das Fenster geöffnet, knipste die Lampe an und ging zum Kleiderschrank, um mir meine Sachen für den Tag herauszusuchen. Die Erinnerung an den Traum war noch immer frisch. Entsprechend schwer fiel es mir, die Schranktür zu öffnen. Einen Moment klammerten sich meine Finger um den Knauf, ehe ich die Tür aufzog, um meine Schuluniform herauszuholen. Ein grün-braun karierter Faltenrock, weiße Kniestrümpfe und eine weiße Bluse wanderten nach draußen. Gestern war es ziemlich frisch gewesen, weshalb ich auch noch nach dem farblich passenden, dunkelgrünen Wollblazer Ausschau hielt. Dafür musste ich ganz hinten im Schrank suchen, dort, wo die Schatten am undurchdringlichsten und die Erinnerungen am stärksten waren.
    Die Magiepolizei hatte mich damals schnell in meinem Versteck ausfindig gemacht. Keine große Leistung angesichts der Tatsache, dass ich zu schreien begonnen hatte, als Dad zu Boden gegangen war. Sie hatten mich aus dem Haus in einen grauen Bau voller grauer Räume, bevölkertmit Menschen mit grauen Gesichtern gebracht. Zumindest sahen sie so in meiner Erinnerung aus. Tagelang wurde ich einem Test nach dem anderen unterzogen, der zeigen sollte, ob ich ebenfalls Magie im Blut hatte. Die Ergebnisse waren allesamt negativ.
    Damals war meine Kraft noch nicht erwacht, und als es Jahre später geschah, war sie so vollkommen anders als Moms Magie, dass die Magiepolizei Schwierigkeiten haben würde, sie zu entdecken, solange sie nicht Zeuge wurde, wie ich sie einsetzte.
    Schließlich wurde ich als harmlos eingestuft und »freigegeben«. Es folgte eine jahrelange Odyssee durch verschiedene Heime und Pflegefamilien. Die meisten Familien gaben mich zurück, sobald sie begriffen, dass ich nicht vorhatte, ein Teil ihres Lebens zu werden. Sie tauschten mich um wie ein Kleidungsstück, das sich nach dem Kauf als Fehlgriff erwiesen hatte. Sosehr ich mir auch wünschte, eine Familie zu haben und dazuzugehören, so wenig konnte ich es mir erlauben. Die Gefahr, mich zu öffnen und mein Geheimnis – bewusst oder unbewusst – zu lüften, war zu groß.
    Glücklicherweise würde ich im nächsten Frühjahr nicht nur meinen Schulabschluss machen, sondern auch volljährig werden. Dann konnte ich endlich auf eigenen Beinen stehen und die Zeit der Pflegefamilien gehörte endgültig der Vergangenheit an. Immerhin konnte ich meiner aktuellen Pflegefamilie nicht den Vorwurf machen, mich zu bedrängen. Bei den Stensons handelte es sich um ein stinkreiches Ehepaar, für das ich eine Art Wohltätigkeitsprojekt war. Während sie sich in der Öffentlichkeit damit brüsteten, einer armen Waise ein Zuhause zu geben, hatten sie mich ins Internat abgeschoben, noch ehe ich einen Fuß auf ihr Anwesen gesetzt hatte. Immerhin war es eine gute Schule, mit Einzelzimmern für jeden.
    Seufzend nahm ich den silbernen Bilderrahmen zur Hand, der auf meinem Nachttisch stand. Das Foto darin zeigte meine Eltern und mich an meinem fünften Geburtstag. Wir alle trugen bunte Papphüte und beugten uns lachend über die schiefe, zweistöckige Torte, die Mom damals extra
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