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Die Fluchweberin

Die Fluchweberin

Titel: Die Fluchweberin
Autoren: Brigitte Melzer
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ziemlich armselig, aber auf diese Weise geriet ich zumindest nicht in Versuchung, mehr über mich preiszugeben, als gut für mich war. Zum Glück waren die meisten Leute sowieso zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, dass ich ihnen nur etwas vorspielte.
    Mercy, Ty und Lily waren die perfekten Kandidaten. Ich mochte die drei, sie waren witzig und sympathisch, aber sie waren auch oberflächlich genug, um gar nicht erst zu bemerken, wie sehr ich mich in Wirklichkeit zurückhielt. Ich war da. Das schien ihnen zu genügen. Manchmal genügte es mir sogar selbst. Es gab Tage, an denen ich es schaffte, mireinzureden, dass die drei echte Freunde waren. Menschen, denen ich etwas bedeutete und die mir wichtig waren.
    Eigentlich war es paradox: Ich hasste mein Leben, ganz besonders die Einsamkeit, und trotzdem tat ich alles, um es zu schützen.
    »Hey, Raine, hörst du mir überhaupt zu?«
    Mercys Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Auch wenn meine Albträume dafür sorgten, dass ich beinahe jeden Morgen früh auf den Beinen war, war das nicht gerade eine Zeit, zu der ich bereits vernünftig funktionierte. Abgesehen davon hasste ich die Mahlzeiten, wenn alle fröhlich schnatterten und mich daran erinnerten, wie wenig ich dazugehörte.
    »Was?«
    Lachend schob sie sich eine blonde Locke hinters Ohr. »Ich sollte mich wohl inzwischen daran gewöhnt haben, dass du um diese Uhrzeit noch auf Autopilot läufst. Ich wollte wissen, ob du heute Nachmittag beim Waldlauf dabei bist.«
    Allein bei der Vorstellung schüttelte es mich schon. Als ich nach Holbrook Hill gekommen war, hatte ich mich für das Volleyballteam entschieden, weil es einfacher war, Anschluss zu finden, wenn man zu einem Team gehörte. Abgesehen davon mochte ich Ballspiele. Aber Waldläufe? Es mochte zwar erst September sein, aber hier am Rande des Dartmoor Nationalparks, eine halbe Stunde Fußmarsch von der nächsten Ortschaft entfernt, zeigte sich das Wetter bereits von seiner besten Herbstseite.
    »Ich muss für den Geschichtstest Ende der Woche lernen.« Das war nicht einmal gelogen, allerdings war ich recht gut in Geschichte, sodass sich der Lernaufwand in Grenzen hielt. Abgesehen davon war erst Montag.
    »Oh verflucht, der Test!« Ty schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Den hatte ich völlig vergessen.« Er warf mirseinen berühmten Hundeblick zu. »Kannst du mir deine Notizen leihen, Raine? Bitte. Biiiittteee.«
    Ich seufzte. Ty war nicht so unwiderstehlich, wie er glaubte, doch wenn er etwas wollte, konnte er einem so lange auf den Keks gehen, bis er es bekam. »Du kannst sie dir in der Pause kopieren.«
    »Du bist unbezahlbar!« Er warf mir eine Kusshand zu und schob sich gleich darauf eine Gabel mit Rührei in den Mund. »Wie sieht es mit Sonntagabend aus, Mädels?«, fragte er kauend. »Zimmerparty bei mir?«
    Obwohl die Wohngebäude der Jungen und Mädchen getrennt waren und das Betreten der Zimmer des anderen Geschlechts untersagt war, gab es regelmäßig geheime Zimmerpartys. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Lehrkräfte und Hausvorsteher davon wussten, es aber duldeten, solange wir nicht über die Stränge schlugen. Oder sie irgendwelche Pärchen knutschend in den Besenkammern fanden. Tys Zimmerpartys waren ausgesprochen harmlos. Es bedeutete nichts weiter, als dass wir uns einen Film auf seinem Laptop ansehen und er versuchen würde, mit einem der Mädchen zu knutschen. Wie üblich würde er sich eine Abfuhr einhandeln, sich furchtbar darüber beklagen, dass wir nicht seinem Charme erlagen, und dann im letzten Drittel des Films einschlafen.
    Es waren vollkommen harmlose Abende, die tatsächlich Spaß machten. Zumindest wenn der Film einigermaßen gut war. Deswegen nickte ich auch, als Lily und Mercy ebenfalls zusagten.
    »Achtung, Traumpaar auf zwölf Uhr«, zischte Lily, als Kim und Max an unserem Tisch vorbei zu ihrem Stammplatz in der Mitte des Speisesaals gingen. Wie gewöhnlich waren die beiden spät dran, die Frühstückszeit endete in fünf Minuten, und wie jeden Morgen trug Max das Tablettseiner Freundin, während sie hoch erhobenen Hauptes hinter ihm herstolzierte.
    Max nickte mir im Vorübergehen kurz zu, was mir sofort einen giftigen Blick von Kim einbrachte. Die beiden waren das ungekrönte Königspaar der Schule, er der Kapitän des Basketballteams und sie das Mädchen mit dem Abo auf den Titel der Ballkönigin. Optisch waren sie ein tolles Paar, er groß, kantig und dunkelhaarig, sie klein, mit weiblichen Kurven
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