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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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er in der schon angetrockneten Blutlache auf den Fliesen aus. Die restliche Distanz bis zum Wandschrank schlurfte er mit den Stiefeln über den Boden, um den an den Sohlen haftenden Blutbelag loszuwerden. Umgeben vom Verwesungsgeruchdes Krüppels, tastete er sich an den Innenwänden des Vorratsschranks entlang. Stieß auf Knoblauchzöpfe und weiter hinten auf Werkzeuggriffe und schließlich auf ein längeres, aufgewickeltes Hanfseil.
    Am Fuß der Säule hingen noch immer die Fesseln von seiner Gefangenschaft. An der Handschelle hakte er die Winde fest und führte das Seil hindurch. Beide Enden des Seils in Händen haltend, ging er zurück zum toten Schergen und band ein Ende um dessen Fußfessel. Anschließend zog er so lange an dem anderen Ende des Flaschenzugs, bis die Stiefel des Toten parallel lagen, als schlüge er die Hacken zusammen. Sobald er jedoch stärker zu ziehen begann, verlor der Junge das Gleichgewicht. Also stemmte er die Füße zu beiden Seiten an die Türpfosten und begann mit seinem ganzen Körpergewicht am Seil zu reißen. Der Leichnam bewegte sich nicht viel, aber er bewegte sich. Nach einer Weile hatte er den Schergen immerhin so weit in den Raum geschafft, dass er die Tür zubekam.
    Was der Junge dann tat, hatte der Hirte ihm nicht aufgetragen. Er näherte sich dem Polizeiwachtmeister und tastete mit geschlossenen Augen sein Jackett ab. Aus der Innentasche wühlte er das versilberte Feuerzeug hervor und verstaute es in der Brusttasche seines Hemdes. Dann kippte er einen Ölkanister aus dem Wandschrank über den Leichen aus. Durchtränkte ihre Kleidung, bis sie vollgesogen war und der Rest sich über die gemusterten Bodenfliesen ergoss. Anschließend häufte er von der Decke herabgefallene Rohrputzbrocken und einige zerbrochene Holzkisten auf die Körper. Obendrauf schichtete er dieaufgelesenen Überreste des Korbstuhls, den er vor seiner Flucht zertrümmert hatte. Zum Schluss umwickelte er eines der Stuhlbeine mit Sackleinenfetzen und Putzwolle und band diese mit einem Stück Hanfseil fest. Draußen dämmerte allmählich der Morgen.
    Mit einer Holzkiste in Händen kehrte der Junge zum Brunnen zurück und ließ sich neben dem Hirten nieder.
    »Wir können los.«
    »Sind die Leichen in Sicherheit?«
    Der Junge blickte hinüber zur Herberge auf die gekalkte Hauswand, die in den rötlichen Schein der aufgehenden Sonne getaucht war.
    »Ich denke ja.«
    »Das Tor zur Hölle steht ihnen schon offen.«
    »Ja.«
    Er setzte dem Alten den Strohhut auf den Kopf und zog ihn von den Steinen hoch. Der Hirte konnte sich kaum aufrechthalten. Die Hose schlackerte mehr denn je. Das Jackett hing in Fetzen an dem lädierten Körper. Dem Jungen war bis zu diesem Moment nicht aufgefallen, wie schrecklich abgemagert der alte Mann war. Er half ihm, sich auf den Brunnenrand zu setzen, und schob ihm die Holzkiste unter die Füße, sodass er darauf zu stehen kam. Dann ging er los den Esel holen und führte ihn quer vor den Hirten hin. Von seinem Podest aus hingen die Tragekörbe dem Hirten etwa auf Magenhöhe. Der Junge half ihm, sich bäuchlings über den Packsattel zu legen. An Beinen und Armen zerrend, schaffte er es, dass der Alte schließlich im Sattel saß, die Beine zwischen den Tragekörben festgeklemmt.
    Noch ein letztes Mal kehrte der Junge zur Herberge zurück. Inzwischen war es auf der Straße hell geworden, doch bis die Sonne in die Herberge eindringen würde, war es noch ein paar Stunden hin. Er schnappte sich die aus Putzwolle gebastelte Fackel und ließ den Blick noch einmal durch den schummerigen Raum schweifen, ohne viel zu erkennen. Etwas Drückendes hing im Raum, der Geruch nach zernagtem Holz, angefressenen Maiskörnern und Mäusekot. Vermischt mit dem Verwesungsgestank des toten Krüppels, der sich bereits zu zersetzen begann, und trotz der Plünderung auch noch ein Hauch von dem würzigen Aroma der Räucherwaren. Er griff nach dem Türknauf, um die Haustür mehrere Male fest hinter sich zuzuziehen, doch vergeblich. Sie klemmte. Die Hand des Schergen ragte noch über der Schwelle nach draußen. Mit der Stiefelspitze schob er sie hinein und knallte die Tür dann kräftig zu, bis das Schloss endlich einrastete.
    Er holte das Feuerzeug aus seiner Hemdentasche hervor und zündete es an. Die bläuliche Flamme beleuchtete sein schmutziges Gesicht. Hätte er sich im Spiegel sehen können, wären ihm die Tränen gekommen. Er hielt die Flamme an die Fackel und blies darauf, bis sie aufloderte. Dann senkte er
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