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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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Aus den Tragekörben holte er die Pfanne, die dem Krüppel gehört hatte, und ging zu Füßen des Hirten in die Hocke. Mit dem Pfannenstiel zog er eine Linie am Boden, nahm mit Hilfe der Hände Maß und übertrug die Breite auf die Stelle, an der er vorhatte zu graben.
    Zunächst kam er zügig voran. Er säuberte einen Streifen längs des Toten von den Nadeln und hob mit der Pfanne die ersten lockeren Sandschichten aus. Etwa eine Handspanne tief stieß er auf die ersten Wurzeln, die sich netzförmig in allen Richtungen unter der Erde ausbreiteten und ihm fortan das Graben erschwerten.
    Bis zum Morgen war das Loch zwar ein paar Handspannen tiefer, aber noch immer zu flach, um den Alten auch nur bis zur Nasenspitze unter die Erde zu bringen.Erst am Vormittag, als er schon bis zu den Knien in der Grube versank, legte er eine Pause ein, um Kraft zu schöpfen. Zwar hätte der Körper nun hineingepasst, doch hätten ihn Tiere problemlos wieder ausbuddeln können. Also beschloss er, weiterzuschaufeln und erst aufzuhören, wenn er bis zur Taille im ausgehobenen Erdloch stand. Es wurde Nachmittag, und die Erschöpfung war ihm längst zur zweiten Haut geworden.
    Nur ein Ereignis riss ihn aus dem gewohnten Trott. Zum Mittag hin sprang der Hund, der zusammengerollt vor sich hingedöst hatte, plötzlich auf und schnüffelte aufgeregt mit der Nase in die Richtung des Weges. Der Junge beruhigte ihn und nahm ihn angeleint mit zum Waldrand. Von dort aus erspähte er eine kleine Gruppe von Maultiertreibern, die gen Norden vorbeizogen. Drei Männer mit zehn oder zwölf beladenen Maultieren. Die Leute mussten zwangsläufig das Dorf passiert und die niedergebrannte Herberge gesehen haben. Auch das Motorrad des Polizeiwachtmeisters am Dorfeingang konnte ihnen nicht entgangen sein. Der Junge war sich sicher, dass sie in den Ruinen des abgebrannten Hauses herumgeschnüffelt und die verkohlten Leichen entdeckt hatten.
    Als er etwas später versuchte, den Hirten in das Grab zu hieven, rollte der Leichnam zur Seite und landete mit dem Gesicht nach unten in der Grube. Das Grab war so eng, dass der Junge eine halbe Stunde brauchte, bis er ihn wieder auf den Rücken gedreht hatte. Er schenkte ihm noch einen letzten Blick und bedeckte sein Gesicht mit einem übrig gebliebenen Stoffstück von der Satteldecke.Zum Schluss schüttete er das Grab wieder mit Erde zu und klopfte die Oberfläche glatt. Die restliche Erde verteilte er in der Umgebung und verdeckte anschließend alles mit einer Schicht Piniennadeln. Er hoffte, der Fleck der feuchten, aufgewühlten Erde würde in kürzester Zeit verdunsten, damit das Grab nicht sofort zu erkennen wäre. Eine Weile blieb er noch davor stehen, starrte auf den Flecken Erde, unter dem der Hirte begraben lag. Dann entfernte er sich. Mit zwei gut zwanzig Zentimeter langen Stöckchen kam er zurück und legte sie über Kreuz auf das Grab. Er betrachtete sie ungläubig, fragte sich, was diese Stöckchen hier an diesem fernen Ort für einen Sinn haben sollten. Irgendwann fing er an, ein Vaterunser zu beten, wurde nach ein paar Zeilen immer leiser, murmelte die Worte vor sich hin, bis sie ihm auf den Lippen erstarben und er das Gebet abbrach.
    Gerne hätte er den Namen des Alten gewusst.
    Den restlichen Nachmittag erholte er sich. Aß alles, wonach es ihn gelüstete, und trank so viel Milch, wie er eben aus den Ziegen herauspressen konnte. Danach döste er eine Zeit lang bequem auf den Korbtaschen gebettet. Bevor die Dunkelheit hereinbrach, lud er dem Esel das Gepäck auf, band den Halfterstrick los und machte sich wieder auf den Weg. Vom Mond beschienen, marschierten sie über einsame Pfade durch ebenes Gelände. Der Polarstern wies ihnen die Richtung. Wenn sie ab und zu vom Kurs abkamen, stießen sie doch früher oder später wieder auf den richtigen Pfad.
    Eines Morgens ruhte der Junge im Schutz eines alten Hauses, in dem Wanderarbeiter gelegentlich Unterschlupf suchten, als er plötzlich das Prasseln von Regentropfen irgendwo auf einem heruntergefallenen Blech vernahm. Vom Hauseingang aus betrachtete er das ungewöhnliche Spektakel, das sich vor seinen Augen abspielte. Der Himmel wolkenverhangen und ein reines, glasklares Licht, das den Dingen einen nie gekannten Glanz verlieh. Die dicken Tropfen, die auf der staubigen Erde zerbarsten, ohne darin zu versickern. Er ging in das Haus und kehrte mit einem Topf unter dem Arm zurück. Ein paar Meter vom Eingang entfernt stellte er das Gefäß mitten auf dem Boden ab.
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