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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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hochzuziehen. Er wusste, dass er tot war.
    Der Junge hatte weder Kraft noch Lust, sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Er war einfach zu ausgelaugt. Mit seinem Hintern und den Schultern nestelte er sich in eine bequeme Lage auf dem Nadelbett. Wenig später schmiegte sein Arm sich ungewollt an den des Alten, bevor er sich dem Schlaf hingab wie jemand, der sich den Wind vom Meer ins Gesicht blasen lässt.
    Er erwachte, als der Hund ihn mit der Schnauze in die Seite stupste. Langsam öffnete er die Augen und tastete nach dem Kopf des Tieres, das sofort Ruhe gab. Die Pinienwipfel filterten nicht mehr die grelle Mittagssonne, sondern dämpften das staubkörnige Orange des Abendhimmels. Er spürte den Arm des Alten an seinem und setzte sich auf, ohne zu ihm hinüberzusehen. Sein Magen krampfte, sein Rücken schmerzte. Kniend durchwühlte er das Pinienbett, bis er einen spitzen Stein fand, den er weit über die Ziegen hinwegschleuderte, damit er ihn nicht mehr in den Rücken stach. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht. Der Esel stand unverändert da, mit allen Vorräten bepackt. Er ging zu ihm hin und kraulte ihn unterm Maul, das Gesicht an seines geschmiegt. Später befreite er das Tier von den Tragetaschen, nahm den Halfterstrick ab, goss Wasser in eine Schale, die er aus der Herberge mitgenommen hatte, und ließ es trinken.
    Nach einer Weile ging er zum Rand des Pinienwäldchens und hielt längs des Weges Ausschau. Über dem offenen Gelände war es noch heller, und von seinem Ausguck aus konnte er eine beträchtliche Wegstrecke überblicken. Wohin er auch schaute, war weit und breit niemand zu sehen.
    Sein Magen krampfte noch immer, als er zum Hirten zurückkehrte. Die Bauchkrämpfe, dachte er, rührten vielleicht von dem verdorbenen Wasser, das sie getrunken hatten. Obwohl er durstig war, vermied er es, noch einen Schluck zu trinken. Er wollte es von nun an jedes Mal abkochen. Er sah dem Esel zu, wie er das Maul bis zu den Nüstern ins Gefäß versenkte, dann wanderten seineAugen weiter zu den Ziegen. Er blickte in die Runde, als suchte er etwas. Eine schwache Brise, gerade genug, um eine Quelle aus dem Nichts sprießen zu lassen, aus der frisches Wasser in seinen Mund sprudelte. Seinen Mund, der sich anfühlte wie gegerbtes Leder.
    Ziellos wanderte er in der Gegend umher, vermied bewusst, zu dem Alten hinzusehen. Er durchsuchte die Vorräte, prüfte die Festigkeit der Pfanne, schnupperte am Öl. Ließ anschließend die Ziegen frei, damit sie ein wenig Auslauf hatten, beobachtete den Hund, wie er sie eifrig beisammenhielt. Streichelte den Esel, ging wieder zum Waldrand und setzte sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder.
    Wieder zurück bei seinem Lager, wählte er die Ziege mit dem prallsten Euter aus, hockte sich hinter sie und massierte die Zitzen mit einer Hand, bis die ersten Tropfen kamen. Dann stellte er einen Topf unter das Euter und molk. Als ihm das Gefäß voll genug klang, entließ er die Ziege mit einem Klaps, hob den Milchtopf hoch und trank das, was er der Geiß hatte abtrotzen können.
    Eine Weile hielt er still inne, stellte schließlich den Topf auf dem Boden ab und näherte sich dem Hirten. Zum ersten Mal seit dessen Tod wagte er es, den Leichnam zu betrachten. Er lag am Boden ausgestreckt, das Gesicht entspannt. Der Strohhut einen halben Meter entfernt, so wie er ihm vom Kopf gefallen war. Das fleckige Jackett aufgeklappt, sichtbar die Peitschenstriemen auf den Rippen. Er hätte genauso gut auch bloß schlafen können, doch in Wirklichkeit musste der Tod ihn schon von innen auffressen. Während hinter ihm die Ziegenglöckchenbimmelten, ließ der Junge sich weinend neben dem leblosen Körper fallen.
    Es herrschte noch finstere Nacht, als er wegen der Ameisen wach wurde. Sie krabbelten ihm über die Hände, auf denen sein Kopf lag, bis ins Gesicht. Hastig kniete er sich hin und schüttelte sie ab. Die Sicht reichte nur wenige Meter weit. Er tastete nach dem Leichnam des Alten neben sich, der ganz kalt war. Mit den Fingern schaufelte er die Piniennadeln beiseite. Wischte, als er auf den nackten Boden stieß, eine größere Fläche frei. Dann schichtete er in der Mitte ein Häuflein trockener Nadeln auf und entfachte ein winziges Feuer, dessen tanzendes Flämmchen ausreichte, die vielen Insekten, die sich auf Brust und Gesicht des Hirten tummelten, sichtbar zu machen. Er suchte sich einen kleinen Pinienzweig und benutzte ihn als Besen, um den Körper von den Insekten zu befreien.
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