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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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den Fackelkopf zu Boden und drehte den Griff langsam, bis das ganze Sackleinen Feuer fing. Er ging zum Fenster, zog eine Klappe der Läden auf, warf den Stab auf den drinnen aufgeschichteten Scheiterhaufen und wartete ab. Zunächst passierte nichts, und er fürchtete schon, die Fackel könnte erloschen sein, bevor das Brennmaterial zündete. Doch nach ein paar Minutenfing das trockene Strohgeflecht der Stuhlsitzfläche Feuer, und der Rest ergab sich von allein. Er ließ die Fensterklappe offen stehen und kehrte wieder zu dem Hirten und den Tieren zurück. Den Esel am Halfterstrick verließen sie das Dorf gen Norden. Als sie Kurs auf die Berge nahmen, war die Sonne bereits voll aufgegangen.

11
    E rst am späten Vormittag, als das Dorf und die Qualmwolke kilometerweit hinter ihnen lagen, merkte der Junge, dass der Hirte nicht mehr lebte. Er hatte beschlossen, in einem etwas abseits vom Weg gelegenen Wäldchen zu rasten, um Sonne und Menschen zu meiden und ein wenig zu schlafen. Er hatte angenommen, er handele im Sinne des Hirten, denn genauso hatte dieser ihre Tagesabläufe eingeteilt: nachts unterwegs und tagsüber unsichtbar.
    Auf dem Weg hatte er immer wieder zurückgeblickt, um sich zu vergewissern, dass mit dem Hund, den Ziegen und dem Alten alles in Ordnung war. Irgendwann war der Hirte zur Seite gekippt und hatte schräg zwischen den aus den Tragetaschen herausragenden Flaschenhälsen festgehangen. Der Junge hatte angenommen, er sei eingeschlafen, was ihn kaum verwundert hatte. Also entschied zum ersten Mal er, wann und wo sie Pause machten. Er war sich sicher, der Hirte würde ihm für diese Art der Arbeitsteilung dankbar sein.
    Sie verließen den Weg und stapften querfeldein durchein knochentrockenes, steiniges Gelände. Er bemerkte die Spuren, die sie im Staub hinterließen, und überlegte kurz, ob er sie beseitigen sollte. Die Hufabdrücke vom Esel und den Ziegen hätte er mit Zweigen verwischen können. Aber ihm fehlte die Kraft, auch noch den Ziegendung aufzusammeln. Und so ließ er es sein.
    Ihm ging die vergangene Nacht durch den Sinn, der Scherge mit dem eingeschlagenen Schädel und der Polizeiwachtmeister, dem der Hirte das Hirn ausgepustet hatte. Er dachte auch an die vielen Tage, die sie bereits gemeinsam unterwegs waren, die schlaflosen Nächte, den Hunger und die brutalen Übergriffe. Seine Lider fingen an zu zittern, und mit einem Mal machte sich Gleichgültigkeit in ihm breit. Am liebsten wäre er mitten in der Einöde einfach auf die Knie gesunken und eingeschlafen, doch das Wäldchen lag direkt vor ihrer Nase, und so gab er sich einen letzten Ruck.
    Der Pinienhain war klein, gerade tief genug, um sich so weit darin zu verkriechen, dass sie vom Weg aus nicht zu sehen waren. Hätte sie jemand gesucht, hätte er sie sofort aufgestöbert, doch in diesem Moment war das dem Jungen egal. Schnell raffte er ein paar Äste zusammen und errichtete zwischen mehreren Sträuchern einen provisorischen Pferch. Mit Unterstützung des Hundes sperrte er die Ziegen hinein und ging zurück zu dem Hirten, um ihm beim Absteigen zu helfen und den Esel von seiner Last zu befreien.
    »Wenn es Ihnen recht ist, rasten wir hier ein wenig.«
    Der Alte zeigte keinerlei Reaktion. Der Junge trat näher an den Esel heran, schaute unter der Hutkrempenach dem Hirten. Er hielt die Augen geschlossen, absichtlich, wie der Junge glaubte. Er befreite die zwischen den Körben und den Flanken des Esels eingeklemmten Beine. Stemmte dem Alten dann seine Schulter in die Hüfte, schlang ihm die Arme um den Rücken und versuchte, ihn herunterzuheben. Plötzlich kippte der Hirte mit seinem ganzen Gewicht auf ihn drauf, und sie fielen auf den knisternden Piniennadeln zu Boden.
    Der Alte roch streng, ebenso streng wie er selbst. Ohne recht zu begreifen, was geschehen war, wäre er gerne so liegen geblieben, wäre er nicht so schwer gewesen. Schließlich warf er den Alten mit aller Kraft von sich ab. Der Junge blieb noch eine Weile neben dem leblosen Mann ausgestreckt, so als hätte er an einem schwülen Morgen bloß seine Decke beiseitegeworfen. Die Erschöpfung fesselte ihn an die Erde. Er atmete tief ein und aus, während er in die Wipfel der Pinien blickte. Das grellgelbe Licht von Millionen Nadeln gekämmt, die einen Himmel filterten, der es nicht zuließ, dass man direkt hineinschaute. Ein Luftzug entlockte den sich aneinanderreibenden Nadeln ein Rascheln wie Balsam. Unnötig, den Alten wachrütteln zu wollen oder ihm die Lider
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