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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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streichelte seine Flanken, um es zu beruhigen. Er dachte, es habe Durst. Band eslos und wollte es zum Brunnen führen. Doch das Pferd scheute und galoppierte in südlicher Richtung davon. Er sah noch, wie es am Hang zum Eichenwäldchen verschwand, und bedauerte seine Flucht, denn ein Pferd wie dieses hätten sie gut gebrauchen können.
    Das Mondlicht drang kaum zu dem Leichnam vor, weshalb der Junge den Körper nur in groben Umrissen erkannte. Der Alte hatte ihm erzählt, er habe ihm einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt. »Du hast nichts mehr zu befürchten«, hatte er gesagt, doch nun, da er vor dem Toten stand, fühlte er sich kaum noch in der Lage, das zu tun, was der Hirte ihm aufgetragen hatte. Er malte sich aus, wie der Hirte plötzlich mit einem schweren Stein in der Hand aus dem Dunkel hervorgetreten war.
    Der Alte hatte ihm nicht erzählt, dass der Scherge wach gewesen war, als er auf ihn gestoßen war. Dass er betrunken durch den staubigen Hinterhof getorkelt war, singend und betend, mit geschwollener Zunge. Hatte ihm auch verschwiegen, was der Scherge ihm in seiner Trunkenheit gebeichtet hatte: das mit dem Motorrad, den Jagdtrophäen, dem Vater, der alten schmutzigen Decke, dem Silo, den Abgaben, dem Dobermann, dem Jungen.
    Er hatte für sich behalten, wie er den Schergen, nachdem er ihm zugehört hatte, zur Bank begleitet und ihm geholfen hatte, sich auf dem harten Stein auszustrecken. Nicht ein Wort von dem, was dann geschehen war, dem gewaltigen Strudel aus Hass und Wut und der anschließenden Vergeltung.
    Der Alte hatte ihm nur gesagt, er solle dem Schergen den Sack wie eine Kapuze über den Kopf ziehen und umden Hals zubinden, bevor er ihn zur Herberge zurückschleppte.
    »Sieh dem Mann nicht ins Gesicht! Das macht dich nur krank.«
    Es fiel dem Jungen schwer, sich dem Leichnam zu nähern und alle Kräfte zu sammeln, um ihm den Sack überzustülpen. Das Gesicht zur Nacht hin abgewandt, tastete er sich an der leblosen Brust des Mannes entlang bis zum Kopf vor. Als er einmal in die Nässe auf dem Hemd fasste, schnellte seine Hand zurück. Ohne hinzuschauen, rollte er den Sack dann auf, legte ihn auf das Gesicht des Toten und zog ihn so weit über den Kopf, bis er an den Stein stieß, auf dem der Körper lag. Daraufhin zog er den Stoff hinten über den Nacken, sodass der Kopf ganz verhüllt war, und band ihn um den Hals des Mannes fest. Erst als er glaubte, die Kapuze könne nicht mehr verrutschen, zerrte er an dem Körper, bis dieser auf den Boden fiel. Auf dem Stein blieben schwarze Blutkrusten, eitrige Gehirnmasse und von Blutgerinnseln übersäte Kopfhautfetzen zurück.
    Er band dem Schergen ein Seil um die Fußgelenke und knüpfte es am Halfterstrick fest, so wie der Alte es ihm erklärt hatte. Sie brauchten eine Ewigkeit bis zur Herberge. Den Esel kostete es große Mühe, mit seiner Last rückwärtszulaufen. Als sie endlich eintrafen, versuchte der Junge, den Esel mit dem Hinterteil durch die Tür ins Haus zu schieben, doch das Tier sträubte sich gegen die gähnende Dunkelheit, die sich hinter ihm auftat. So blieb dem Jungen nichts anderes übrig, als den Schergen loszubinden und selbst zu versuchen, ihn überdie Schwelle ins Hausinnere zu ziehen. Er packte ihn an den Hosenbeinen und zog mit all seiner Kraft, ohne ihn auch nur einen Zentimeter vom Fleck zu bekommen. Immer wieder versuchte er es, verausgabte sich bis zur vollkommenen Erschöpfung, ohne dass der schwere Körper sich rührte.
    Noch war kein Morgengrauen zu sehen, doch er schätzte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne aufging. Er fühlte sich nicht in der Lage, den Leichnam allein von der Stelle zu bewegen. Einen Moment lang dachte er, der Mann könne ruhig dort liegenbleiben. Er schaute hinüber zum Brunnen. Der Hirte regte sich nicht, daneben lag der Hund, und die Ziegen waren im weiteren Umkreis verstreut. Ihm kam eine Idee.
    Er lief zum Brunnenrand, ließ mehrmals den Topf hinab und gab den Tieren zu trinken. Dann kletterte er auf die Steinmauer und montierte die Winde ab, unter deren Gewicht er beinahe in den Brunnenschacht gestürzt wäre.
    Wieder im Haus legte er die Winde auf den Tisch. Tastete sich bis zu den Schränken vor, in der Hoffnung, ein langes Seil zu finden. Als nur noch der Wandschrank zu durchsuchen war, stockte er kurz. In der Totenstille des Raumes hörte er sich selbst atmen. Er nahm seinen Mut zusammen und schlich sich an dem toten Polizeiwachtmeister vorbei. Auf halber Strecke rutschte
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