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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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doch darunter mischte sich ein anderer, unangenehmer Geruch. Er schob den Kopf weiter in die Dunkelheit vor, und obwohl er nichts sah, spürte er die Grausamkeit dessen, was sich dort ereignet hatte. DenPesthauch unaussprechlicher Sünden. Sein Magen krampfte sich zusammen, und beinahe hätte er sich übergeben. Er atmete tief durch, schüttelte den Kopf und betrat den Innenraum. Mit der Peitsche als einzige Verteidigung tastete er sich an den Wänden entlang. Ließ die Füße über den Boden schleifen, um nirgendwo draufzutreten, bis er zu der Stelle kam, an der die Räucherwaren hingen. Er nahm das noch verbliebene halbe Dutzend Würste an sich, hängte sie sich über den Arm und eilte wieder hinaus.
    Er führte den bepackten Esel vor den Hauseingang, band ihn an dem Eisenring fest und lief so lange hin und her, bis er die Körbe mit Wurstwaren, Mehl, Salz, Bohnen und Kaffee vollgestopft hatte. Als nichts mehr hineinpasste, kehrte er mit dem Esel zum Brunnen zurück. Dort band er ihn am Galgen fest und schöpfte Wasser, um es vorsichtig in die engen Flaschenöffnungen zu gießen. Dabei verschüttete er eine Menge über das Füllstroh und die Flanken des Esels, der sich ab und zu mit dem Kopf die betroffenen Stellen rieb. Darunter balgten sich Hund und Ziegen um das von den Körben tropfende Nass.
    Während der gesamten Prozedur hockte der Ziegenhirt reglos mit hängendem Kopf am Brunnenrand. Als das Gepäck mit dem Gurt festgezurrt war, breitete der Junge die Decke darüber aus, damit der Alte bequem saß. Dann hockte er sich vor den Hirten nieder.
    »Ich habe den Esel bepackt. Wir können los.«
    Der Hirte sagte nichts, zeigte keinerlei Regung, weshalb der Junge schon fürchtete, er sei tot. Er beugte sichmit dem Ohr über seinen Mund und lauschte. Doch nichts war zu hören. Erschrocken tastete er nach dem schlaff herabhängenden Arm des Alten, rief »Señor«. Der Hirte zuckte leicht zusammen, fiel gegen die Brunnenwand und hob mit schleppender Langsamkeit den schmutzverkrusteten Kopf. Seine Augen öffneten sich wie alte, abgegriffene Münzen, ohne jeglichen Glanz. Er murmelte etwas vor sich hin. Der Junge beugte sich zu ihm hinunter.
    »Ich verstehe Sie nicht.«
    »Du musst die Leichen begraben.«
    »Wie bitte?«
    »Begrab die Leichen!«
    Der Junge richtete sich auf und ließ den Blick umherschweifen. Das Dorf in dunkle Schatten gehüllt, nichts als verfallene Mauern. In der Ferne, wie gewohnt, der Himmel. Luftringend warf er den Kopf in den Nacken. Er fühlte sich am Ende seiner Kräfte und sehnte sich nur noch zurück in sein staubiges Erdloch, die warme, feuchte Kuhle, in der er sich die erste Nacht seiner Flucht zusammengerollt hatte. Die Urhöhle, aus Lehm. Für die Sonne unerreichbar und von Wurzeln durchzogen, die das Erdreich bei Wasser und Wind festhielten. Er betrachtete seine zitternden Hände und atmete tief durch. Der bepackte Esel, zum Aufbruch bereit, daneben der Alte, der nun erneut etwas von ihm verlangte, was ihm widerstrebte. Die Bastarde zu beerdigen, ihnen eine vor Raubtieren geschützte Ruhestätte zu suchen, in der sie bis zum Jüngsten Tag ausharren konnten.
    »Das schaffe ich nicht allein.«
    »Musst du aber.«
    »Es gibt weder Hacke noch Schaufel.«
    »Wenn du sie nicht begräbst, werden sie von den Vögeln gefressen.«
    »Ist das jetzt noch wichtig?«
    »Ja, es ist wichtig.«
    »Sie haben das nicht verdient.«
    »Gerade deshalb musst du es tun.«
    Sie vereinbarten schließlich, die Leichen zwar nicht zu vergraben, sie aber zumindest vor Hunden und Raben in Sicherheit zu bringen. Der Hirte erklärte dem Jungen, wo der tote Scherge lag und was er tun müsse.
    »Geh in die Herberge und bring den Sack mit den Nüssen her. Sieh nicht zum Polizeiwachtmeister hin.«
    Auf Anweisung des Alten trug der Junge den Sack aus der Herberge zum Esel, löste die Kordel, mit der er zugebunden war, und kippte einen Teil des Inhalts in die Körbe. Die meisten Nüsse rutschten in die verbliebenen Lücken zwischen den Vorräten, dem Hausrat und den Flaschen. In einer Hand den Leinensack, in der anderen das Ende des Halfterstricks, machte der Junge sich mit dem Esel auf den Weg zum toten Schergen. Er fand den Mann ausgestreckt auf einer Steinbank hinter einem der Häuser.
    Die Weinflasche aus der Herberge lag umgekippt auf dem Boden, und das Pferd des Schergen war an den Pfeiler eines vertrockneten Laubengangs angebunden. Es tänzelte nervös, als es die Ankömmlinge bemerkte. Der Junge näherte sich ihm und
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