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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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einen blutigen Schleimklumpen aus und sagte dann: »Komm her zu mir, Junge.«
    Der Junge rührte sich nicht, die Hand des Polizeiwachtmeisters lag auf seiner Schulter.
    »Wenn du nicht sofort die Waffe senkst, alter Mann, wirst du es für den Rest deines sowieso nicht mehr langen Lebens bitter bereuen.«
    »Wirf dich zu Boden und halt dir die Ohren zu, Junge!«
    Die Stimme des Hirten klang entschlossen wie der Händedruck eines stolzen Mannes. Worte, hart wie Felsgestein,die eine dem Jungen unbekannte Seite des Alten offenbarten. Kaum vereinbar mit der gespenstischen Gestalt desjenigen, der sie aussprach. Er befolgte den Befehl und duckte sich langsam, sodass der Polizeiwachtmeister mit der gewölbten Hand in der Luft dastand, als hielte sie noch immer die Schulter des Jungen fest. Wie gelähmt, nicht etwa vor Angst, sondern vor Verwunderung.
    »Du hast nicht den Mumm, Ziegenhirt.«
    »Sieh nicht hin, Junge.«
    Ein Knall, berstend und allumfassend, drang vom anderen Ende eines langen Tunnels an sein Ohr. Dann ein Brummen im Schädel und eine Taubheit, die noch tagelang andauern sollte. Scharenweise flüchteten die Tauben, die mit ihren Exkrementen die Häuser verseuchten, durch die kaputten Dächer und flatterten wild durcheinander in alle Richtungen davon. Der Junge spürte, wie der Polizeiwachtmeister zusammenbrach, wie ihn der Luftzug des fallenden Körpers streifte. Die Erschütterung der Fliesen beim Aufprall. Das Geräusch des aufschlagenden Kopfes. Dann nichts mehr.
    Als der Junge schließlich die Augen öffnete, stand der Hirte auf den Tisch gestützt mitten im Raum. Der Junge wusste nicht, wie lange er die Augen geschlossen hatte. Blut tropfte ihm aus den Ohren. Die Flinte qualmte noch, eine schwefelige Wolke, die sich zwischen den Deckenbalken verzog. Neben sich fühlte er das Gewicht des leblosen Bündels verrenkter Knochen und Muskeln. Die letzte Wärme des an ihn gedrängten Körpers. Dann die Stimme des Hirten, die, ähnlich wie in seinen Träumen, aus den Tiefen eines entfernten Ortes aufstieg. Ein Schrei,der sich durch seine Gehörgänge Bahn brach. Lauter und lauter.
    »Sieh mich an, Junge! Sieh mich an!«
    Der Junge schaute auf, drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme des Alten ertönte, und traf auf seine strengen Augen. Starre Pupillen, die ihn fixierten, um ihm den Anblick des zerplatzten Schädels neben ihm zu ersparen. Der Hirte hob den Zeigefinger und wies auf seine Augen.
    »Sieh – mich – an!«, sagte er mit übertriebener Mimik. »Sieh – mich – an!«, wiederholte er und winkte ihn mit der anderen Hand zu sich.
    Der Junge robbte bis vor die Füße des Hirten und zog sich, immer mit dem Rücken zum Polizeiwachtmeister, am Tisch hoch. Der Alte nahm sein Gesicht in beide Hände, legte ihm seine Arme um den Kopf und drückte ihn an seinen lädierten Körper. Der Junge fing an zu zittern, als sei ihm kalt. Reglos starrte er vor sich hin. Der Hund steckte den Kopf durch die Tür herein.
    »Machen wir, dass wir fortkommen!«
    Immer noch benommen hob der Junge den Arm des Hirten an und schob seine Schultern darunter, um ihn hinauszubegleiten. Als beim Hinausgehen sein Blick auf die Schale voller Nüsse fiel, ließ er plötzlich den Hirten los. Die geballten Fäuste auf die Tischplatte gestützt, stand er da und starrte auf die Schale. Der Ziegenhirt beobachtete ihn schweigend. Auf einmal senkte der Junge den Kopf, als gäben seine Halsmuskeln nach, und er brach in jämmerliches Schluchzen aus, rang immer wieder keuchend nach Atem. Eine Zeit lang ließ ihn der Hirte weinen,schließlich legte er ihm die Hand auf den Hinterkopf und führte ihn zur Tür. Gemeinsam traten sie in die friedliche, laue Nacht hinaus, die Tränen des Jungen am dreckigen Ärmel abgewischt. Sie trotteten quer über den kleinen Platz bis zum Brunnen. Der Alte mit schlurfenden Füßen, der Junge unter der Bürde eines Mannes, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Als sie ihr Ziel erreichten, half der Junge dem Hirten, sich am Brunnenrand niederzulassen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, sodass die Sicht kaum weiter als fünfzehn, zwanzig Meter reichte. Nur von der brennenden Ölschale des Polizeiwachtmeisters drang noch ein blassgelber Lichtschimmer durch die offene Herbergstür nach draußen. Der Junge kauerte sich neben dem Hirten nieder, und so verharrten sie still, bis sie aneinandergelehnt in den Schlaf fielen.
    Zitternd erwachte der Junge. Lange hatte er, an die ausgemergelte Schulter des Alten
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