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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Autoren: Mike Powelz
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Verstorbenen.
    „Gutaaaav waaa nuu kuuuzzz hiiie.“ Für Professor Pellenhorn war das Aussprechen jeder Silbe ein Kampf gegen die eigene Zunge.
    „Ja, Gustav hat leider nur sieben Tage bei uns gewohnt“, entgegnete Dietmar dem ALS-Kranken, dessen Zustand sich anfangs lediglich von Woche zu Woche, mittlerweile jedoch von Tag zu Tag verschlechterte. Wie der verstorbene Sonnleitner wartete auch Professor Pellenhorn auf den Tod in Haus Holle.
    ALS, diese aus drei Buchstaben bestehende Abkürzung für Amyotrophe Lateralsklerose , war eine grausame Krankheit, die den meisten daran Erkrankten jeden Lebensmut raubte.
    Nicht jedoch Berthold Pellenhorn. Seit der Ex-Abgeordnete des Innenministeriums seine tödliche Diagnose erhalten hatte, lebte er förmlich auf und setzte dem Sterben nur eines entgegen: unübertreffbaren Optimismus. Dabei wusste Professor Pellenhorn genau, dass der Tod bereits auf dem Weg war und ihn sehr bald einholen würde in seinem Rollstuhl, den seine gelähmten Hände längst nicht mehr zu lenken vermochten. Seine Muskeln verschwanden langsam, und zwischen seinem Hals und seinen Nackenwirbeln verklebten alle Nerven. Tränen jedoch flossen selten aus Pellenhorns Augen, und wenn, dann waren es Tränen der Freude. Sein unerschöpflicher Humor hatte es seiner Frau Barbara noch leichter gemacht, ihren Gatten in der schwierigsten Zeit ihrer langjährigen Ehe aus tiefstem Herzen zu lieben und ihm jeden Dienst zu erweisen – auch jetzt, wo er seine Gedanken nur noch stoßweise äußern konnte.
    Ja, Professor Pellenhorn war für alle, deren Lebensweg er gestreift hatte oder die ihn neu kennengelernt hatten, eine Quelle unendlicher Freude. Sogar am Ende seines Lebens und für die anderen Todkranken, die von jedem Mitarbeiter Gäste genannt wurden.
    „Aaaallees Guuuute, Gutaaav“, drang es jetzt aus Bertholds Kehle.
    Ohne Luft zu holen, und zu Dietmars Überraschung, folgte im gleichen Atemzug eine neugierige Frage: „Uuuun weee zzzieht jeeezz aaaain“?
    „Ich würde es Ihnen gerne sagen“, entgegnete der dünne Krankenpfleger. „Doch den Namen Ihrer neuen Mitbewohnerin kenne ich selbst nicht. Es ist eine ältere Dame – Missie, Milli, oder so ähnlich…“
     
    Minnie holte tief Luft, bevor sie Zimmer 6 zum ersten Mal betrat.
    Ein Hauch von Dietmars Salbeiblättern, vermischt mit dem Duft frischen Kaffees, drang in ihre Lunge ein. Wie gut das hier roch! Die erste Anspannung fiel von ihr ab und ihre Mundwinkel lockerten sich. Beides geschah nicht grundlos. Mitten in jenem Zimmer, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, erblickte die alte Dame einen alten Vertrauten – ihren heimischen Fernsehsessel.
    Sie hatte ein neues Zuhause! Nie wieder würde sie eine Klinik von innen sehen! Das war vorbei! Doch bereits der nächste Gedanke löste einen Schock aus. Es war ein undenkbarer Gedanke, und er lautete: „Mein neues Heim ist die absolute Endstation. In diesem Bett werde ich sterben. Danach lande ich im Sarg. Wenn ich erst mal in dem drin bin, geht es ab in die Kapelle. Bei meiner Trauerfeier werden die Lebenden ein Ave Maria hören, während ich – getrennt von ihnen – neben dem Alter aufgebahrt sein werde. Nach meiner Beerdigung flüchten alle ins  Warme zurück – zu Kaffee und Kuchen, und fort vor dem Dezemberfrost.“ 
    Zwar war heute erst der 1. November, doch dass sie noch bis Weihnachten oder sogar länger leben würde, davon war Minnie innerlich fest überzeugt.
    Auch und obwohl sie in einem Sterbehospiz gelandet war. Sie fuhr sich in die weißen Locken und versuchte den Schock abzuschütteln. Sie würde hier nicht sterben. Schließlich stand hier ihr Fernsehsessel, schließlich hingen hier ihre Vorhänge, schließlich atmete sie – und schließlich wollte sie weiter leben.
    Kämpferisch ballte die alte Dame ihre Hand zu einer Faust und erinnerte sich an die Worte ihres Hausarztes Dr. Vier: Haus Holle war nicht die Endstation – sondern die vorletzte Etappe. Ein Haus zum Erholen, ein Haus zum Aufatmen, ein Haus zum Leben, bevor der Tod kam.
    Eines jedoch wusste selbst Dr. Vier nicht. Dieses Eine flüsterte ihr eine hoffnungsvolle, innere Stimme zu. Sie war beständig und treu und sie sagte: „ Du wirst vielleicht wieder gesund, Minnie. Du kannst es schaffen. Du hast eine Chance! “
    Zugegeben: Sie litt unter Vaginalkrebs im Endstadium. Der Krebs hatte bereits gestreut. Außerdem gab es Metastasen in der Lunge, der Blase und wo auch immer.
    Sei’s drum.
    „Sie werden staunen, was in
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