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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Autoren: Mike Powelz
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Haus Holle möglich ist“, hatte ihr Dr. Vier gesagt. „Nutzen Sie die Chance, bitte.“
    So weit, so schlecht: Sie war hier, weil die Ärzte sie aufgegeben hatten. Aber, ob sie sich selbst aufgeben würde – das stand auf einem anderen Blatt Papier. Ins Hospiz gegangen zu sein war eine Sache für sich. Aber hier auch sterben zu müssen? Minnie konnte sich das nicht vorstellen. Schließlich fühlte sie sich gut. „Den Zweiten Weltkrieg habe ich schließlich auch überlebt“, machte sie sich selbst Mut, „und das war beileibe Glück.“
    Minnie stellte ihre Handtasche auf das weißbezogene Bett. Sie legte ihr uraltes Stofftier auf das Kopfkissen. Jumbo hatte sie durch alle Höhen und Tiefen eines langen, erfüllten Lebens begleitet. Er sah aus wie immer. Der graue Elefant lag halb auf der Seite, den Rüssel um seinen Hals gerollt, die Augen geschlossen, und sanft schlafend. Ihm war es immer egal gewesen, wohin er mit Minnie reiste.
    Warum auch nicht?
    Sie sah sich in Zimmer 6 um und bewunderte die Annehmlichkeiten. Es gab ein Telefon mit einer persönlichen Durchwahl, einen mit einem Spiegel verzierten Holzschrank, einen modernen LCD-Flachbildfernseher, Dusche und WC – und sogar eine Musikanlage.
    Doch das war längst nicht alles. Auf dem einzigen Tisch im Zimmer wartete ein selbstgebackener Willkommenskuchen auf sie. Er hatte die Form eines Teddys mit ausgestreckten Schokoladenarmen. Außerdem gab es ein riesengroßes Sprossenfenster vor einem Mini-Balkon, von dem aus sich auf eine einladende Holzbank unter einer blätterlosen Kastanie blicken ließ – sowie auf die Rollstuhl-Rampe vor Haus Holle.
    Gerade wurde ein Buddha in einer geringelten Winterjacke Richtung Eingangstür geschoben. Minnie erkannte auf den ersten Blick, dass es der gleiche, gelähmte Herr war, der sie nach dem Aussteigen aus dem Taxi mit einem kehligen „Guuuteeen Taaag!“ begrüßt hatte. Ein Buddha, den man mögen musste. Ein Buddha, dessen geschwollene Füßen in Gummipantoffeln steckten.
    Minnie blickte an sich selbst hinunter, bis ihre Augen an ihren Füßen haften blieben. Tatsächlich trug sie das gleiche Schuhwerk wie der Gelähmte im Rollstuhl. „Da habe ich ja schon einen Bruder im Geiste getroffen“, murmelte sie leise und sah in den Spiegel. Eine betagte Frau blickte sie an, ein Wesen, so knittrig im Gesicht wie die uralte Morla aus Michael Endes Kinderbuch Die unendliche Geschichte . Eine wirklich alte Frau mit schütterem Haar – und Locken, die von unerbittlichen Geheimratsecken nach hinten gezogen wurden.
    „Weiß“, flüsterte sie, „alles an mir ist weiß wie die Wolken über dem Mount Everest.“ Tränen kullerten aus ihren blassblauen Augen. Nein, es war nicht leicht, hier her zu kommen. Sie war völlig auf sich allein gestellt. Jumbo war ihr keine Hilfe. Dass sie hier gelandet war, war ein böser Albtraum. Es konnte nicht wahr sein. Nicht wahrrrr, nicht wahrrrrrrrr, nicht waaaahrrrrrrrr………
    Ihre erst im letzten Jahr knochig gewordene Hand griff nach der schimmernden Perlenkette, die ihre glänzende Satinbluse zierte und hielt sich kurz daran fest, während sie die alte, weiße Frau im Spiegel unter einem wütenden Tränenschleier musterte.
    Alles in ihr zog sich zusammen. Sie legte die Stirn in Falten.
    Doch, es war wahr : Sie war hier – in einem Sterbehospiz !
    Fassungslos blickte sie die alte Kreatur im Spiegel an, die sie selbst war. „Du sollst hier sterben!“ Das Echo des Gedanken hallte durch ihren Kopf, und die Zeit schien stillzustehen.
    Bis die alte Dame etwas erblickte, das ihr neue Hoffnung schenkte: Der Farbton ihrer Hose war nicht weiß. „Immerhin fast beige“, erkannte Minnie, und schüttelte den Wahnsinn ab. Nun denn, sie musste den Gedanken akzeptieren , in Haus Holle gelandet zu sein. Vorerst. Mal sehen, wie das Leben hier war.
    Minnie roch den Duft frischen Kaffees. Ob jemand kommen würde, um sie abzuholen?

Der Einzug
     
     
    Egal, ob es sich um ein Urlaubshotel, um die neuen vier Wände eines Freundes oder um eine Berghütte für einen Wochenendtrip handelt – wenn man ein Haus zum ersten Mal betritt, will man es als erstes komplett besichtigen. Das gilt besonders, wenn es sich bei dem Haus um ein Hospiz handelt und man selbst in dieses Haus einzieht. Und es gilt noch mehr, wenn man Angst hat vor dem Haus, und sich sein neues Eigenheim düster und dunkel vorstellt. 
    Das Taxi, das Minnie abgeholt hatte, war am Morgen des 1. November vor Haus Holle vorgefahren. Ein
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