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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Autoren: Mike Powelz
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irgendetwas bedrückte.
    Die ergraute Hauswirtschafterin wusste, dass Todkranke, die noch offene Rechnungen mit dem Leben hatten, oftmals komplizierter starben.
    „Du warst einer von ihnen“, dachte Katharina mitleidig. Vielleicht hatte Gustav auf den letzten Besuch eines ehemaligen Liebhabers am Sterbebett gewartet. Eines Liebhabers, den er auf dem übermütigen, dekadenten Zenit seines Lebens kaltblütig beiseite gestoßen hatte. Vielleicht auf eine warme Hand. Vielleicht auf ein e Aussprache. Vielleicht auf eine Versöhnung. Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
    Doch gekommen war niemand. 
    Bis jetzt.
    Unten, in der Eingangshalle, wartete Sonnleitners aus Wien angereiste, herausgeputzte Schwester darauf, dass ihr Katharina die persönliche Habe des Toten überreichte – um sie mitsamt der Leiche ihres Bruders verbrennen zu lassen. Es waren wenige Habseligkeiten: Ein schäbiges Zigarettenetui, ein Paar braune Hauspantoffeln, ein paar nussfarbige Straßenschuhe, ein grüner Pullover und eine Blue Jeans, des Weiteren eine fleckige Jacke, zwei blitzsaubere Schlafanzüge und ein dünnes Fotoalbum.
    Katharina packte alles in einen Karton, trug ihn zur Tür und wandte sich dem Toten ein letztes Mal zu. Dann flüsterte sie: „Ich schicke Dir gleich jemanden, der für frische Luft sorgt. Und wünsche Dir alles Gute, Du lieber Kerl!“
    Sie schloss die Tür zu Zimmer 6.
     
    Nebenan, in Zimmer 5, hörte Professor Berthold Pellenhorn, dass der dünne Dietmar tief nach Luft schnappte, als er Gustavs Raum betrat.
    Rasch schritt der Pfleger am Totenbett vorbei. Er scannte den Raum mit dem Blick eines an Sterbezimmer gewöhnten Profis, der Pfarrern, Imamen, Buddhisten und anderen Geistlichen bereits seit vier Jahren die Eingangstür öffnete oder Menschen im Endstadium aus Märchen– oder Philosophiebüchern vorlas und unzählbare Tränen trocknete.
    Er blickte den Leichnam an. Friedlich sah er aus, der Gustav. Seliger als zu Lebzeiten.
    Seine Augen, die dem Tod so misstrauisch hatten ausweichen wollen, als könnten sie ihm entkommen, waren endlich geschlossen. Kollegen hatten Dietmar erzählt, dass sich der Verstorbene in seiner Todesnacht bis zur letzten Sekunde gezwungen hatte, krampfhaft ein Auge offen zu halten – bis ihn seine Kraft verlassen hatte. Daraufhin hatte er seinen letzten Satz geflüstert: „Muss es denn wirklich schon sein?“ Die Nachtschicht hatte genickt und Gustavs Hand ergriffen. Sie ermunterte ihn, sich zu ergeben, und meistern zu können, was Milliarden von Menschen vor ihm geschafft hatten. Zu sterben.
    Sterben. Für Dietmar war Sterben immer noch ein Rätsel. Obwohl er schon lange in Haus Holle arbeitete, und alle Facetten des Sterbens zu kennen glaubte, hatte es ihn zutiefst geschockt, als vor vier Monaten ein Kollege bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
    Sein Blick sank zu Boden. Dietmar schloss die Fenster, entzündete Salbeiblüten in einer Räucherschale, blähte seine Nasenflügel auf und atmete den Duft tief ein. Es war ein langjähriges Ritual in Haus Holle, dass ein Sterbezimmer mit geräuchertem Salbei gereinigt wurde. „In alle vier Ecken mit guten Gedanken“, dachte Dietmar, während er beinahe majestätisch durch das Zimmer schritt. Der geräucherte Salbei vertrieb den Geruch von Gustavs letztem Kampf. „Riecht wie eine dicke Tüte“, schoss es Dietmar durch den Kopf. Plötzlich freute er sich auf den Feierabend.
    Zuletzt stellte der Pfleger eine Schale mit frisch gemahlenen Kaffeebohnen auf. Es war die wirksamste Waffe gegen den Geruch offener Tumore. Dietmar ahnte, dass das dem nächsten Gast in 6, einer älteren Dame, gefallen würde.
    Plötzlich spürte er, dass er nicht mehr allein war. Dietmar wandte den Kopf, schaute zur Tür und erblickte einen Rollstuhl, in dem ein dicker Mann mit einem Ringelpullover saß. Er sah aus wie ein Buddha – mit fröhlich funkelnden Augen. Seine Ehefrau hatte den äußerst beleibten Berthold Pellenhorn bis vor das Zimmer des Toten geschoben.
    Sonnleitners Ex-Nachbar grinste schelmisch. Er öffnete seinen Mund und aus seiner Kehle sprudelten drei Worte: „Kooomm  jeeeman Neuuäs?“ 
    „Ja“, entgegnete Dietmar. „Heute zieht eine neue Bewohnerin ein, Professor Pellenhorn. In wenigen Stunden haben Sie eine neue Nachbarin!“
    Berthold Pellenhorn wiegte seinen Kopf hin und her. „Unnn Gutaaav?“
    „Herr Sonnleitner wird gleich abgeholt“, antwortete Dietmar mit einem Seitenblick auf den
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