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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Autoren: Mike Powelz
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Gerade wollten die alten Herren das neue Jahr begrüßen – und mit ihnen schlüpfte das Ich nach draußen, hinein in die schneeweiße Winterzauberwelt, in der nur Mimis Augen leuchteten und die Silvesterraketen verblassten.
    Manchmal bin ich wie ein Vogel im Wind, frierend im Schnee und vom Sonnenschein blind…
    War da Musik?
    Erwartungsvoll streckte Minnie die Hand aus. Das sah nicht nur erwartungsvoll aus, sondern auch sehr elegant.
    Der alte Zauberer kam auf sie zu. „Da bist Du ja, meine Schöne!“
    Marius’ Mund neigte sich ihrer Hand entgegen. Mit Rechts ergriff er ihre Linke, sein Arm besetzte ihre Hüfte. Weich lag sie in seiner Armbeuge, und ließ sich rückwärts von ihm beugen.
    „In diesem Leben“, sagte Marius, „sind wir uns so spät begegnet – und dann auch nur in Deinem Traum. Beim nächsten Mal werde ich vom ersten Moment an bei Dir sein…“
    Tanzend setzte sich das Paar in Bewegung. Minnie kostete die Ewigkeit aus.
    Zeit wird Raum …
    Wunsch wird Tra um…
    Ihre Finger umschlossen sich.
    Und wenn ich doch noch Geborgenheit find, dann weil Du mir nahe bist.
    „Ich liebe Dich“, flüsterte Minnie und küsste Marius.

Epilog
     
    Minnie starb am 31. Dezember. Es war 23.57 Uhr, als die alte Dame die Augen schloss. Obwohl sie 84 Jahre alt geworden war, sah ihr Gesicht aus wie das eines jungen Mädchens.
    Die Hauswirtschafterin atmete auf, als sie die Fenster in Minnies Sterbezimmer öffnete, in dem der Leichnam seit zwölf Stunden ruhte.
    Sie erkannte den Raum kaum wieder. Minnies Bett stand nicht mehr an der Wand, sondern direkt unter dem Fenster – vor dem Balkon, den die alte Dame in den wenigen wachen Tagen, die sie in Haus Holle verbracht hatte, so sehr geliebt hatte. Vom Bett aus hatte Minnie die Schneeflocken sehen können. Überall brannten Teelichter, und der Fernseher war mit einem Tuch abgedeckt worden. Katharina atmete auf, weil sie sich für Minnie freute. Endlich litt die Kranke nicht mehr.
    Die Hauswirtschafterin schlug kein Kreuz und sie wurde nicht andächtig. Doch sie zog einen Stuhl ans Bett und hielt einen Moment lang inne, während sich ihr Blick auf das Antlitz der Toten heftete. Zu Lebzeiten hatte sie Minnie immer nur kurz gesehen, etwa, wenn die alte Dame mit Mimi, der Katze des Hauses, gespielt hatte. Mimis Vertrauen zu gewinnen – das war vor der alten Dame keinem anderen Gast gelungen.
    Minnie würde nie wieder mit Mimi spielen. Und sie würde nie mehr gequält aussehen. Der Tod hatte ihr Gesicht verwandelt, wie es immer der Fall war nach dem Dahinscheiden. Sie trug ein rosafarbenes Kostüm und ihre schönsten Schuhe, denn ihre Töchter vermuteten, dass sie darin beerdigt werden wollte. Leider hatte sie den Wunsch nach ihrer letzten Kleidung nicht mehr mitteilen können. Außerdem hielt sie ihr uraltes Stofftier im Arm.
    Katharina Schulz sorgte seit 17 Jahren und zwei Monaten für Sauberkeit und Sterilität in den zwölf Gästezimmern von Haus Holle. Einen toten Gast, der so da lag wie Minnie, hatte sie noch nie gesehen. Zwar ruhte die alte Dame auf dem Rücken, doch im Moment des Sterbens hielt sie den linken Arm in einer eleganten Pose, so als würde sie einen unsichtbaren Tanzpartner umfassen. Am meisten jedoch staunte die Hauswirtschafterin über Folgendes: Minnies über dem Kopf liegende Hand war nicht verkrampft, sondern weit geöffnet. Das sah nicht nur erwartungsvoll aus, sondern auch sehr elegant.
    Katharina war beeindru ckt. Minnie hatte ihr Leben losgelassen, weil sie bereit war für den Tod. Sie konnte gehen, weil alles gut war. Olimpia und Andreas waren bis zur letzten Sekunde bei ihr gewesen.
    Die Hauswirtschafterin beugte sich über die Tote und flüsterte: „Ich werde Dir jetzt die Hände falten!“ Als sie das getan hatte, warf sie einen Blick auf Minnies Habseligkeiten: Ein Album mit Katzenfotos, zwei Aufnahmen von ihren Töchtern und deren Kindern, ein paar weiße Hosenanzüge – und ein beschriftetes Tagebuch, das der Psychologe auf ihr Bett gelegt hatte.
    Katharina nahm es an sich.
    Auf dem Buch klebte ein Post-it. „Für Mike Powelz“ stand darauf.
    „Nun“, dachte Katharina, „dann muss ich den jungen Reporter wohl anrufen.“ Sie verstaute das Tagebuch in ihrem Kittel, ohne einen einzigen Blick hinein zu werfen.
    Zuletzt packte sie Minnies restliche Habe in einen Karton, trug ihn zur Tür und wandte sich der Toten noch einmal zu. Sie flüsterte: „Ich schicke Dir gleich jemanden, der für frische Luft sorgt. Und ich wünsche Dir
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