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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre
Autoren: Koonchung Chan
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nicht gerade beinahe erwürgt worden, hob He Dongsheng zu einem letzten Vortrag an.
    »Nach dem erfolgreichen Start von Feuer, Eis und Gold erschien ein Leitartikel in der Renminribao, der parteieigenen ›Volkszeitung‹, der mit den Worten begann: ›Mit Eintritt der Weltwirtschaft in die Feuer-und-Eis-Periode hat Chinas Goldenes Zeitalter offiziell begonnen …‹ Man hatte die beiden Begriffe eigentlich nur aus rhetorischen Gründen miteinander verbunden, doch ab je­nem Tag wurde diese Formulierung in vielen anderen Berichten wiederholt und entwickelte sich zu einer stehenden Wendung, die inzwischen jedem ganz selbstverständlich über die Lippen geht.
    Die Zentrale Propagandaabteilung vermerkte damals in einem Bericht, dass in den Medien und sogar im Internet kaum noch jemand die fraglichen achtundzwanzig Tage dazwischen erwähnte. Wir dachten, dass die Menschen es eben einfach nicht ertrugen, an die schmerzhafte Vergangenheit zu denken, und lieber nach vorn blickten. Oder schlicht zu beschäftigt damit waren, Geld zu verdienen und es wieder auszugeben.
    Das war ein großer Vorteil für die Partei. Anarchie und Repression sind schließlich kein Ruhmesblatt; sie sind mit Blut befleckt – sündhaft, falls jemand von euch religiös ist. Also hat die ZPA die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und die Diskussion über diese achtundzwanzig Tage bewusst vollends unterbunden. Ihr wisst ja, dass wir weltweit die fortschrittlichste Technologie zur Internetüberwachung besitzen. Und die traditionellen Medien trauen sich sowieso nicht, unsere Anweisungen zu missachten, die haben wir vollständig unter Kontrolle. Hinzu kommt, dass sich die Menschen seit Anbruch unseres Goldenen Zeitalters kaum noch für den Westen interessieren. Die Bevölkerung liebt die quietschbunte Medienlandschaft hierzulande, ausländische Zeitungen haben nur eine verschwindend kleine Leserschaft. So kam es, dass diese achtundzwanzig Tage, die ohnehin nur noch sehr wenige Menschen beschäftigten, gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs verschwanden.
    Und dann geschah etwas, was ich heute noch unglaublich finde: Immer mehr Menschen vergaßen die achtundzwanzig Tage einfach. Und das nicht nur vorübergehend; sie erlitten einen kompletten Erinnerungsverlust – ganz so, wie manche Menschen mit schmerzhaften Kindheitserfahrungen ihr Trauma komplett aus ihrem Gedächtnis löschen.
    Die über Vierzigjährigen erinnern sich nach wie vor an die Kulturrevolution und die Studentenproteste von ’89 – aber seit Beginn des Goldenen Zeitalters geht es allen so gut, dass kaum noch jemand an die dunklen Flecken in der Vergangenheit denkt; sie werden wie selbstverständlich ausgeblendet.
    Doch die achtundzwanzig Tage haben die Leute nicht einfach nur ausgeblendet, sondern tatsächlich vergessen.
    Ob es etwas mit dem Trinkwasser zu tun hat, kann ich nicht sagen. Für Zhongnanhai gibt es eine gesonderte Versorgung mit Wasser und Getränken, wir trinken nicht das Gleiche wie ihr. Sicher gibt es ein paar Leute bei uns, die da nachlässig sind und unbedacht alles Mögliche trinken oder sich gar bewusst am MDMA berauschen wollen, aber was ich sagen will, ist, dass die meisten Menschen dort sich an die achtundzwanzig Tage erinnern und ihnen der nahezu umfassende Gedächtnisschwund im Land nicht entgangen ist.
    Als mir dieses Phänomen bewusst wurde, habe ich ihm in verschiedenen Kreisen nachgespürt. Das Ergebnis war immer dasselbe: Niedrige bis mittlere Funktionäre, Experten und Akademiker – sie alle hatten keinerlei Erinnerung mehr; so als hätten sie sich selbst einer Gehirnwäsche unterzogen. Dass etwas nur so kurz Zurückliegendes völlig in Vergessenheit gerät, ist in der Tat äußerst merkwürdig, für uns aber von unschätzbarem Wert.
    Besser ging es nicht. Die damalige Führungsriege hatte seit jenen achtundzwanzig Tagen Blut an den Händen und ein Interesse daran, dass die Leute die Sache vergaßen. Also halfen wir ein wenig nach. Es gibt ja in den Bibliotheken alle Zeitungen nur noch in elektronischer Form, so war es ein Leichtes, die Geschichte der achtundzwanzig Tage umzuschreiben. Vor allem haben wir den Beginn des Goldenen Zeitalters in China um genau diesen Zeitraum vorverlegt, sodass er mit dem Eintritt in die weltweite Wirtschaftseiszeit zusammenfiel. Die eine Woche Anarchie und die dreiwöchige Repressionskampagne existieren nicht mehr. Erstaunlicherweise hat nicht nur niemand gegen diese Änderungen protestiert; sie sind sogar kaum jemandem
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