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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre
Autoren: Koonchung Chan
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anging – ich kannte sie nicht, und sie sahen keine Notwendigkeit darin, mich kennenzulernen.
    An diesem Tag war die Atmosphäre anders als bei den früheren Empfängen. Alle Anwesenden waren blendender Laune. Während der vergangenen zwei Jahre hatte mich selbst des Öfteren eine eigenartige Euphorie überkommen, doch die Bombenstimmung dort befremdete mich dennoch ein wenig. Die Verleger, Redakteure und Autoren hier hatten sicherlich alle ihre leidenschaftliche Seite, aber bei gesellschaftlichen Anlässen wie diesem legten sie selten einen derartigen Überschwang an den Tag. Es war, als hätten sie alle zwei Runden Erguotou intus, regelrecht high waren sie.
    Der Herausgeber von Dushu – was soviel heißt wie ›lesen‹–, der alte Zhuang Zizhong, nahm eigentlich schon lange nicht mehr an diesen Empfängen teil; an jenem Tag jedoch erschien er, im Rollstuhl sitzend, aber sonst augenscheinlich kerngesund. Wie ein vertrockneter Baum, der mit einem Mal wieder Blüten treibt. Ich hätte ihn begrüßt, aber er war die ganze Zeit von einer Menschentraube umringt, also ließ ich es. Auch alle wichtigen Leute aus den Chefetagen von SDX und Dushu – Parteisekretäre, General Manager, Chefredakteure und ihre Stellvertreter –, kurz: alles, was Rang und Namen hatte, hatte sich eingefunden. Es war eine kleine Sensation; in all den Jahren hatte es nie ein derart rauschendes Fest gegeben. Ich hatte immer einen eher zynischen Blick auf die menschliche Natur gehabt und glaubte eigentlich nicht daran, dass es innerhalb einer Institution so vollkommen harmonisch zugehen konnte – insbesondere nicht hier auf dem Festland und schon gar nicht in einem staatlichen Unternehmen, den Kultursektor eingeschlossen.
    An jenem Tag grüßten mich alle, die mich kannten, mit übermäßiger Herzlichkeit. Aber jedes Mal, wenn ich gerade zu plaudern beginnen wollte, war die Aufmerksamkeit meines Gegenübers schon abgeschweift, so sehr war man damit beschäftigt, sich der allgemeinen Hochstimmung hinzugeben. Auf solchen Empfängen und Partys passiert einem so etwas natürlich immer mal – vor allem, wenn man keine wichtige Rolle spielt. Aber nachdem es sich zum dritten oder vierten Mal wiederholt hatte, zog ich mich in eine ruhige Ecke zurück. Ich nahm wieder die Haltung ein, die mir in all den Jahren immer die vertrauteste gewesen war: die eines unbeteiligten Beobachters. Ich muss zugeben, dass ich ergriffen war von dem Bild, das sich mir bot: eine so große Zahl bekannter Persönlichkeiten der intellektuellen Elite, alle durchweg verschieden und doch harmonisch vereint, einen Ausdruck ehrlicher Freude auf den Gesichtern, verbunden durch ein gemeinsames Hochgefühl; es schien wahrhaftig ein Goldenes Zeitalter des Friedens und des Wohlstands angebrochen zu sein.
    Obwohl ich bestens gelaunt war, verspürte ich auf einmal den unerklärlichen Wunsch, die Szene zu verlassen. Ich entfernte mich von der Feier und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und mich noch ein wenig nach Büchern umzusehen. Ich warf einen halbherzigen Blick in die Kunstabteilung im ersten Stock, um dann kurz nach den Bestsellern, Unternehmensratgebern und Reiseführern im Erdgeschoss zu sehen. Im Laden herrschte ein großer Andrang. Schön, dass sich so viele Leute noch für Bücher interessierten! Das geflügelte Wort vom »Duft der Bücher« kam mir in den Sinn. Vom Erdgeschoss aus ging ich weiter ins Untergeschoss. Die Treppe war auf beiden Seiten mit in Bücher vertieften Schülern und Jugendlichen besetzt, ich hatte Mühe durchzukommen. Beinahe so, als wollten sie einen daran hindern, in die unten gelegenen Abteilungen zu gehen. Gerührt von ihrer Leselust, schob ich mich behutsam an ihnen vorbei zu meinem eigentlichen Ziel. Wenn ich hierherkam, dann vor allem, um die Regale für Literatur, Geschichte, Philosophie, Politik und andere Geisteswissenschaften zu durchstöbern, die den größten Teil des Kellergeschosses ausmachten. Dass diese Sorte Bücher hier so angemessen großzügig präsentiert wurde, war einer der Gründe gewesen, die mich zum Umzug nach Peking bewegt hatten. Eine Stadt, die solche Bücher las, verdiente Anerkennung.
    An jenem Tag aber lag das Untergeschoss ziemlich leer da. Oder besser gesagt: völlig verlassen. Es war merkwürdig, ich hatte plötzlich gar keine Lust mehr, mich länger hier umzusehen. Ich wollte nur noch schnell das Buch holen, das ich suchte, und dann gleich wieder gehen. Aber der Titel des Buches war mir auf einmal komplett
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