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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre
Autoren: Koonchung Chan
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Gerade vor zwei Tagen haben wir über die Riesenkatastrophe gesprochen, die eintritt, sobald ein Bergrutsch den Jangtse am Drei-Schluchten-Staudamm unkontrolliert aufstaut. Alle sind sich darüber im Klaren, dass es früher oder später passieren wird, die Frage ist nur, welche Regierung dann den Schlamassel am Bein hat. Hört auf zu denken, alles könnte noch viel besser sein. Man kann nicht alles haben. In einem so großen Land wird es immer Stümpereien und Missstände geben, anders kann es gar nicht sein. Ich sage euch ganz ehrlich: China hat sein Optimum erreicht, besser als jetzt geht es nicht.«
    »Was soll das heißen, ›besser als jetzt geht es nicht‹?«, rief Xiaoxi.
    »Im Westen glauben die Menschen doch an einen Gott, nicht wahr? Er hat die Welt erschaffen und besitzt vollkommene Güte. Jemand wie er würde doch nicht bewusst eine schlechte Welt kreieren, nicht wahr? Aber an dieser Welt ist in der Tat vieles nicht perfekt, deshalb hat Leibniz Gott in Schutz genommen, indem er sagte, dass die Welt zwar nicht perfekt, eine perfektere jedoch unmöglich sei, da Gott bereits die beste aller möglichen Welten geschaffen habe. Wenn das für Gott gilt, dann doch wohl erst recht für China? Chinas Situation ist unter den gegenwärtigen Bedingungen bereits die bestmögliche, noch besser kann es – realistisch betrachtet – gar nicht mehr werden. Ihr könnt nicht so tun, als gäbe es in China die parlamentarische Tradition Englands oder die gewachsene Sozialdemokratie Nordeuropas oder die Weite und den Ressourcenreichtum Amerikas. China ist China, die Geschichte ist kein leeres Blatt, das sich nach Belieben vollschreiben lässt. Es gibt auch keinen zweiten Versuch, man muss im Hier und Jetzt beginnen. Ich meine, das heutige China hat bereits die bestmögliche Wahl getroffen.«
    »Ach was! Schon Voltaire hat sich über Leibniz’ Einstellung lustig gemacht!«, wandte Chen ein.
    »Ich weiß nicht, wovon ihr redet«, sagte Fang Caodi.
    »Letztendlich geht es doch nur darum, eure Einparteiendiktatur zu verteidigen!«, rief Xiaoxi.
    »Nenn mir eine bessere Alternative, die umfassend und praktisch umsetzbar ist!«, erwiderte He Dongsheng.
    »Dass ich keine nennen kann, heißt noch lange nicht, dass ich Ihr System akzeptieren muss!«, gab Xiaoxi zurück.
    He Dongsheng kannte derartige Schuldzuweisungen. Er war sich darüber im Klaren, dass letzten Endes alles auf die Kommunistische Partei zurückfiel; es war ein zweischneidiges Schwert. Aber wenn man jemandem Vorwürfe machen wollte, dann Trotzki und Lenin, die hatten sich die Einparteienherrschaft schließlich zuerst ausgedacht. Schon Karl Kautsky, der Marx und Engels noch persönlich erlebt hatte, hatte die Problematik erkannt und vor dem bürokratischen Einparteiensystem der Sowjetunion gewarnt: Es werde noch schlimmere Auswüchse hervorbringen als der Kapitalismus. Kein Wunder, dass er Lenin so verhasst gewesen war.
    Aber heutzutage, wo es die Einparteienherrschaft im chinesischen Kapitalismus sozialistischer Prägung gab, war sie da überhaupt noch wegzudenken? War sie nicht vielleicht tatsächlich bereits die bestmögliche Wahl?
    Eine Einparteienherrschaft konnte das Problem ihrer eigenen Korrumpiertheit in der Tat nicht lösen, Meinungen mussten kontrolliert und Dissidenten unterdrückt werden. Aber war China ohne Einparteienregime überhaupt regierbar? Ließen sich ohne die Partei 1,35 Milliarden Menschen satt machen? Ein groß angelegter Plan wie Feuer, Eis und Gold verwirklichen? Wäre Chinas Aufstieg so rasant vonstatten gegangen?
    Manche mochten vielleicht denken, jetzt, wo China bereits aufgestiegen war, wo sein Goldenes Zeitalter begonnen hatte, könne man die Einparteienherrschaft doch beenden! Der He Dongsheng von vor zwanzig Jahren hätte das auch gedacht. Gut möglich, dass er sich dem demokratischen Reformflügel der Partei angeschlossen, ja, vielleicht sogar einen chinesischen Gorbatschow unterstützt hätte. Doch in der Zwischenzeit hatte er jegliches Vertrauen ins westlich-demokratische System verloren. Vor allem aber wusste er, dass die Kommunistische Partei Chinas seit dem 4. Juni ’89 keine Ideale mehr besaß. Ihre Herrschaft diente lediglich dem Selbsterhalt, Funktionär wurde man nur noch, um Profit zu machen. Ein Gorbatschow würde nie erscheinen. He Dongsheng war nicht mehr für politische Reformen zu begeistern, er war sogar der zynischen Ansicht, dass man nicht reformieren solle, nicht reformieren könne, da sonst umgehend Chaos
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