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Der Kapuzenmörder

Der Kapuzenmörder

Titel: Der Kapuzenmörder
Autoren: Paul C. Doherty
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PROLOG

    N ur das Knarren eines Seils am Schafott störte die dunkle Stille, die wie eine Wolke über der weiten Fläche vor St. Bartholomew in West Smithfield lag. Tagsüber herrschte auf dem Gelände buntes, lärmendes Treiben, aber nachts beanspruchten die Geister es für sich. Das große Schafott mit den vorstehenden Balken und den gelben, verknoteten Seilen war ein gewohnter Anblick, genau wie die Leichen, die hier baumelten, mit ihren verrenkten Hälsen, vorquellenden Augen und geschwollenen Zungen zwischen gelben Zähnen. Die Stadtväter hatten verfügt, daß hingerichtete Straftäter stets drei Tage hängen sollten, bis die Leichen anfingen zu verwesen und die Raben mit ihren scharfen Schnäbeln die Augen und das weiche Fleisch des Gesichts weghackten. Niemand näherte sich dem Schafott bei Nacht. Die alten Weiber behaupteten, die Fürsten der Hölle kämen hierher zum Tanzen. Selbst die Hunde, Katzen und Bussarde der Stadt mieden den Ort, wenn es dunkel war. Der Bettler Ragwort jedoch dachte anders. Bei Tag saß er immer an der Ecke der St. Martin’s Lane in Westcheap, streckte den Gläubigen, den Reichen und den Hilfsbereiten, die Londons großen Markt überquerten, um bei St. Paul ihren Geschäften nachzugehen, seine kupferne Bettelschale entgegen und bat wimmernd um Almosen. Nachts aber verzog Ragwort sich nach Smithfield und schlief unter dem Schafott. Er fühlte sich dort sicher. Niemand würde es wagen, ihn hier zu überfallen, und die grausigen Leichen, die da über ihm baumelten, akzeptierte er als Gefährten, ja, als Beschützer vor den Räubern, Dieben und nächtlichen Streunern, die die engen Gassen von London heimsuchten. Manchmal, wenn er nicht schlafen konnte, hockte er auf den hölzernen Brettern, die ihm als Beine dienten, und schwatzte wie eine Elster mit den Kadavern. Er fragte sich, wie sie gelebt hatten und was schiefgegangen war, und sie waren die besten, ja, die einzigen Zuhörer, wenn er seine eigene trostlose Geschichte erzählte: Wie er Soldat gewesen war, geboren und aufgewachsen in Lincolnshire, und dann Bogenschütze in der Armee Edwards von England in Schottland. Wie er mit ein paar Dutzend Kameraden eine Burg angegriffen hatte und die Sturmleiter hinaufgestiegen war, und wie Gott ihn mit der Unterstützung eines rothaarigen Schotten in die Tiefe der Hölle gestürzt hatte. Die Leiter war umgefallen und Ragwort in den wasserlosen Burggraben geflogen, und als er wegkriechen wollte, blieben seine Beine in einem klebrigen, schwarzen, brennenden Olmorast stecken. Tagelang hatte er geschrien, monatelang sich in Qualen gewunden, nachdem die Wundärzte ihm beide Beine unterhalb der Knie säuberlich abgehackt und ihm die hölzernen Bretter angeschnallt hatten. Dann hatten sie ihm ein paar Münzen gegeben, ihn auf einen Karren gesetzt und südwärts nach London geschickt, wo er den Rest seines Lebens betteln sollte.
    Ragwort hatte sich damit abgefunden. Er hatte gute Kundschaft; die großen Lords und die fetten Rechtsanwälte waren großzügige Gönner. Er aß gut, trank jeden Tag einen Krug Rotwein, und wenn es kalt wurde, ließen ihn die guten Brüder des Spitals von St. Bartholomew in ihrem Keller schlafen. Ragwort behauptete, er habe Visionen, merkwürdige Phantasien, die ihn im Traum heimsuchten; manchmal war er sicher, rotgehörnte Dämonen in den Straßen Londons zu sehen. Am Abend des 11. Mai 1302, als Ragwort es sich unter den Gehenkten bequem machte, überkam ihn wieder einmal eine Vorahnung von bevorstehendem Unheil: Seine Beinstümpfe taten weh, es kribbelte ihn im Nacken, und sein Magen blubberte wie ein Topf mit siedendem Fett. Unruhig schlief er eine Weile und wachte auf, als eine kräftige Brise die Kadaver über ihm in makabrem Totentanz wippen und kreiseln ließ. Ragwort schlug gegen die Fußsohlen eines der Toten.
    »Pst!« zischte er. »Laßt den alten Ragwort lauschen!«
    Der Bettler hockte da wie ein Hund und spitzte die Ohren. Dann hörte er es: das Klatschen von Sandalen auf dem Pflaster und schweres Atmen. Eine dunkle Gestalt kam auf ihn zu. Ragwort zog sich weiter zurück und verschwand fast hinter den Beinen der baumelnden Leichen. Er spähte der herannahenden Gestalt entgegen. Wer war das? Eine Frau? Ja, eine Frau. Sie trug ein dunkles Gewand und hatte einen schweren Schritt. Eine alte Frau, folgerte Ragwort, als er graues Haar unter der Kapuze hervorlugen sah; auch die Schultern waren ein wenig gebeugt. Sie schien es nicht eilig zu haben und stellte keine
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