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Die Fastnachtsbeichte

Die Fastnachtsbeichte

Titel: Die Fastnachtsbeichte
Autoren: Carl Zuckmayer
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wollte, und darauf bestanden, ihn im Gesindehof zu behalten und wie ein
eigenes Kind aufzuziehen. Sie hatte ihn auch zur Taufe gebracht, aber eine
Schule oder einen Religionsunterricht konnte er nicht besuchen. Er konnte kaum
sprechen, eigentlich nur bestimmte Laute hervorbringen, aber er verstand alles
— vor allem mich« (es traten plötzlich Tränen in ihre Augen), »und ich verstand
jede seiner Äußerungen.«
    Sie schwieg, bis ihre Augen trocken
geworden waren und ihre Stimme sich beruhigt hatte.
    »Ich war seit meinen frühen
Kindertagen«, erzählte sie weiter, »aufs Landleben versessen, mir graute vor
den großen Steinhallen unseres Stadthauses, die mir immer düster und feucht
vorkamen — und da ich die einzige Tochter und Erbin war, beugte man sich meinem
Willen und verlegte das Familienleben mehr und mehr auf den Gutshof hinaus. Und
von früh auf liebte ich den kleinen, nur wenig jüngeren Lolfo, zuerst wie man
ein Tier, einen Hund oder eine Katze liebt, ein zutrauliches, immer zum Spielen
aufgelegtes und für jede Freundlichkeit unsagbar dankbares Geschöpf, ich hatte
mehr Freude daran, mit ihm, der keine Sprache hatte, irgendwelche
selbstersonnenen Phantasiespiele zu treiben, oder auch allerlei anzustellen, im
Bach zu fischen, auf Bäume zu klettern, in den Ställen herumzustreichen, als
mich mit wohlerzogenen, gleichaltrigen Kindern der Nachbargüter zu langweilen.
Er hatte nicht nur eine ähnliche Gestalt, sondern auch den Spürsinn eines
Hundes, er konnte verlorene Dinge auffinden, die dem sorgsamsten Suchen eines
anderen entgangen wären — auch Menschen«, fügte sie mit einem heimlichen
Schaudern hinzu. »Und er hatte eine untrügliche Witterung für gut und böse. Mit
der Zeit gewöhnte man sich daran, ihn immer um mich zu sehn, und ich nahm ihn
sogar auf kleinere Reisen und Ausflüge mit, wie eine Art von Kammerdiener,
sosehr sich auch fremde Leute vor ihm grausen mochten. Für mich war er mehr als
das. Er liebte mich, wie kein anderer auf der Welt. Seit die alte Frau
gestorben war, die ihn aufgezogen hatte, war ich alles für ihn, Schutz,
Zuflucht, führende Hand und ordnender Wille — und wenn ich nicht da war,
arbeitete er im Holz, denn er fürchtete sich vor meinen Eltern, die ihn ungern
im Haus duldeten, obwohl sie wußten, daß er harmlos war. Nur wenn man ihn
verspottete und ihm Unrecht tat oder gar ihn anrührte, verwandelte sich seine
Harmlosigkeit urplötzlich in die unbändige, besinnungslose Wildheit eines
gereizten Tieres.
    Als Jeanmarie ins Haus kam — der
Falsche natürlich — , mag Lolfo ihn von Anfang an gehaßt, ihm mißtraut haben.
Er spürte alles, er spürte wohl, daß er falsch war, und er, der Falsche, hatte
immer Angst vor ihm. Vielleicht war es bei Lolfo auch eine Art von Eifersucht
auf den fremden Mann — ich nämlich begrüßte ihn mit stürmischem Entzücken, als
er zum erstenmal bei uns auftauchte und in gebrochenem Italienisch nach mir
oder meinen Eltern fragte — ich erkannte ihn sofort und nannte ihn bei
dem Namen, der für mich der seine war, bevor er selbst ihn ausgesprochen hatte:
Jeanmarie.
    Du erinnerst dich«, sagte sie, zu
Panezza gewandt, »daß ich als vierjähriges Mädchen einen Sommer, in dem meine Eltern
eine Auslandsreise machten, auf eurem Gut verbrachte. Wir haben damals täglich
zusammen gespielt — es waren zwei oder drei etwa gleichaltrige Buben, Bettine
hielt sich immer mehr im Haus, wir aber tobten im Garten, in den Weinbergen und
im Wald herum, so oft man uns laufen ließ; und ich erinnerte mich, von diesen
Buben, nur an ihn — er war für mich der Verwandte, der junge Herr, er war Jeanmarie — und er hatte mich damals schon, selbst kaum über fünf Jahre, wie
eine Frau geküßt und berührt, was mich erschreckt und berauscht hatte, obwohl
ich es erst später begriff... Als er jetzt vor mir stand, braunverbrannt, hoch
aufgewachsen — und, wie er sagte, auf einer Weltreise begriffen — , da gab es
für mich keinen Zweifel — er ist Jeanmarie; denn den wirklichen hätte
ich nie wiedererkannt — ich hatte ihn vergessen.
    Vielleicht habe ich ihn damit zu
Jeanmarie gemacht — obwohl er schon mit gedruckten Karten auf diesen Namen in
unser Haus kam, was ihn, zusammen mit meinem Erinnern, bei meinen Eltern
genügend auswies — , vielleicht hatte auch ihn ein dunkles Erinnern oder
Verlangen aus der Kindheit hergetrieben, vielleicht war es auch nur ein
gemeiner Betrug, Berechnung, Gewinnsucht oder die Lust am Bösen — ich weiß
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