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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit
Autoren: Körner
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gehen. Sie kamen in ein kleines Dorf, und den ganzen Herbst half sie, die Ernte einzufahren. Es gefiel ihr gut bei den Bauern. Nur eine Sehnsucht blieb in ihr und wuchs und wuchs, während der Winter die Landschaft in stille weiße Träume verpackte.
    Sie wollte ans Meer. Und deshalb packte sie an einem klaren Frühlingsmorgen ihr Bündel und sagte den freundlichen Bauern, daß sie wieder gehen wolle, denn sie sei unterwegs ans Meer.
    Danach ging sie ihren Weg zurück, bis sie wieder an die große Kreuzung kam. Ratlos setzte sie sich. Wenn sie nur wüßte, welchen dieser Wege sie wählen solle, um endlich an das Ziel ihrer Sehnsucht zu kommen. Sehr lange saß sie an der Wegkreuzung, bis nach Wochen eine Frau kam, die unterwegs war in ein kleines Dorf. Sie wolle dort ihre Waren verkaufen, erzählte sie und fragte die Frau, ob sie nicht Lust hätte, sie zu begleiten. Und weil diese wußte, daß sie allein zu keinem Entschluß kommen würde, ging sie mit der fremden Frau in das kleine Dorf. Es gefiel ihr gut dort. Sie half Hemden und Hosen nähen und später auf dem Markt verkaufen. Aber immer blieb in ihr die Sehnsucht nach dem Meer. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus. Wieder packte sie ihre Habseligkeiten zusammen, verabschiedete sich von der Frau und wanderte zurück an jene große Kreuzung. Hier war ihr inzwischen alles schon so vertraut. Sie suchte sich wieder ihren alten Platz und machte es sich gemütlich. Dann saß sie dort, fast unbeweglich, eine lange, lange Zeit. Ihr Haar war inzwischen dünn und grau geworden. Ihr Rücken beugte sich immer mehr unter der Last der sich ständig wiederholenden Jahreszeiten. Noch immer wußte sie nicht weiter, konnte sich einfach nicht entscheiden, welchen dieser Wege sie denn nun wählen solle. Manchmal glaubte sie in stillen, schlaflosen, mondhellen Nächten ein leises, fernes Rauschen zu hören, als ob das Meer sie rufen würde. Und wenn der Nachtwind mit lauem Hauch von den Bergen strich, vermeinte sie sogar auf ihren Lippen einen zarten salzigen Geschmack spüren zu können.
    Es war eine solche Nacht, als sie sich entschloß, einfach die Berge hinaufzusteigen. Die Wanderung war sehr beschwerlich. Durch beängstigend verwirrende Felsengärten, dichtes Unterholz und über steil abfallende Grate führte ihr Weg nach oben. Höher und höher stieg sie bei ihrer einsamen Wanderung. Nachts war es längst nicht mehr so warm wie unten an der großen Wegkreuzung. Sie fror und kauerte sich oft hilflos an den nackten, kalten Fels. Manchmal glaubte sie auch, ihre Kraft würde nicht ausreichen. Immer schwieriger schien es, sich die steilen Hänge emporzuquälen, um wieder feststellen zu müssen, daß hinter dem eben erklommenen Gipfel der nächste auf sie wartete. Und dann endlich - sie hatte schon fast nicht mehr daran geglaubt - stand sie ganz oben. Der Wind packte ihr langes, graues Haar, zerwühlte es mit klammen Fingern und riß an ihrer Kleidung. Sie öffnete den Mund, um diese Gewalt in sich hineinzusaugen. Erschöpft und keuchend atmete sie gegen den Wind. Und endlich öffnete sie ihre Augen und blickte sich um. Der Ausblick überwältigte sie. Tief unten entdeckte sie, ganz klein jetzt, die Wegkreuzung, auf der sie so lange gesessen hatte. Sie sah die vier Pfade, die sieh dort unten verzweigten. Der eine führte in eine große Stadt, direkt auf den Marktplatz und darüber hinaus. Der andere schlängelte sich durch einen dichten Wald, nahe an ein kleines Häuschen. Aber auch er endete dort nicht. Der dritte war ihr bekannt: Er wand sich in das Tal zu den Bauern, denen sie bei der Ernte geholfen hatte, kletterte dann über einige kleine Hügel und führte weiter in eine fruchtbare Ebene. Und der vierte traf auf jenes kleine Dorf, in dem sie Hemden und Hosen geschneidert hatte. Doch auch dieser zog durch das Dorf hindurch und weiter.
    Die alte Frau stand auf dem Gipfel des Berges und zitterte. Die vier Wege trennten sich vor dem Gebirge, umringten es und näherten sich einander in einer weiten Ebene, vereinigten sich und setzten ihre Reise fort bis zum Meer, in dem sich weit entfernt der Horizont zu spiegeln schien. Die alte Frau saß hoch oben auf den Felsen, die vor ihr steil abbrachen und dort hinten, jenseits der Ebene, verlor sich ihr suchender Blick in die Unendlichkeit des Meeres, je länger sie schaute, um so deutlicher glaubte sie das schäumende Wasser zu sehen. Sie meinte tast die tosende Kraft der Wellen zu spüren, die weit vor ihr in die zerfurchten Klippen
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