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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit
Autoren: Körner
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schlugen und zersprangen. Aber sie konnte nichts hören, so weit weg stand sie, hoch oben auf dem Gipfel und wußte, sie hatte nicht mehr die Kraft zurückzugehen an jene große Wegkreuzung, wo sie so lange gesessen hatte. Zurück, um irgendeinen Weg zu wählen, der sie ans Meer bringen würde. Sie hatte keinen dieser Wege gewählt, war keinen bis zum Ende gegangen. Erst hier, hoch oben auf den Felsen, erkannte sie, daß jeder dieser Wege ans Meer geführt hätte. Und plötzlich wußte sie: Niemals in ihrem Leben wurde der salzig frische Atem grenzenloser Weite ihre Lippen netzen. Lind niemals in ihrem Leben würde sie das wildschäumende Wasser des Meeres auf ihrem Körper spüren.

     

Kristiane Allert-Wybranietz
    Jeder ist eine Blüte

     
    S ie stand in einem Garten, wie es viele Gärten gibt: inmitten von gelben, roten und blauen Blumen — ach, es waren alle Farben vorhanden. Doch sie meinte, eine besondere Blume zu sein. Schon im Frühjahr beschloß sie, auf keinen Fall zu früh zu erblühen. Sie könnte ja einem Spätfrost zum Opfer fallen. Schließlich war ihr Blumenleben begrenzt, da wollte sie nichts riskieren und ja nicht zu früh ihren Knospenmantel verlassen.
    Als im Frühling die ersten Blumen zaghaft zu blühen begannen, dachte sie: „Wie leichtsinnig meine Mitblumen ihre Blüte riskieren!“ Und sie fühlte sich bestätigt, als einige davon wirklich einmal einen Nachtfrost nicht überstanden. Traurig sahen sie aus, die Opfer, mit ihren verknüllten Blütenblättern auf dem gesenkten Stengel.
    Im Mai und Juni erblühte dennoch eine Blume nach der anderen in voller Pracht. Die Nelken verströmten ihren Duft und die Pfingstrosen leuchteten um die Wette. Nur diese eine Blume stand noch immer trotzig in ihrer Knospe und weigerte sich, ihre Blütenblätter zu öffnen : „Sollten doch die anderen schon blühen“, sagte sie sich. Schlimmes hatte sie schon darüber gehört, was einer Blume so alles zustoßen kann, wenn sie erst einmal blüht. Waren es im Frühjahr die Nachtfröste, vielleicht auch noch etwas Schnee, so konnte der Regen im Sommer die Blätter abschlagen. Und wie würde sie dann wirken, so ohne Blütenblätter? Vorbei wäre es mit dem ganzen Blütenzauber.
    Und erst die Vorstellung, jemand könnte sie pflücken, weil sie so schön blüht! Nein, in einer Vase wollte sie auch nicht landen! Niemand pflückt Knospen, dachte sie und kam sich sehr klug und vernünftig vor. Sie wollte sich erst ganz sicher fühlen, um sich dann mit all ihrer Kraft zu entfalten.
    Allerdings bewunderte sie heimlich die Pracht all ihrer Freundinnen: Wie die ihre Blätter in der Sonne räkelten, mit ihrem Duft betörten, ihre Farben ausbreiteten! Diese lebendige Vielfalt war ihr, die noch immer ängstlich in ihrer Knospe hockte, manchmal ein wenig ungeheuer, bedrohlich — vielleicht, weil sie es insgeheim erstrebenswert und herrlich fand? Tief in ihrem Blumenherzen fühlte sie, daß sie gerne mitblühen wollte.
    An manchen Tagen wurde sie dann unsicher: Ob sie überhaupt mit all dieser Blütenpracht mithalten konnte? Was würden die anderen denken, wenn sie weniger schön wäre und nicht so gut duften würde? Vielleicht würde sie als Blüte gar versagen?
    Immer, wenn solche Fragen ihr Unruhe bereiteten, fiel ihr ein, daß sie auf jeden Fall in ihrer Knospenhülle sicher war, daß all diese Ängste sie nicht berühren würden, solange sie einfach in ihrer Knospe bliebe. Außerdem gab die Knospe ihr Halt und Wärme in den manchmal doch recht windigen und kühlen Sommernächten. Aber die Blume fühlte auch Einsamkeit und Finge, die sie oft bedrängten. Find sie spürte, daß sie ausgeschlossen war von dem prallen Leben und Blühen auf ihrem Beet.
    Nach und nach wurde sie immer ratloser. Auf der einen Seite wollte sie die Sicherheit ihrer Knospe nicht aufgeben, auf der anderen wollte sie auch nicht so recht in ihr bleiben. Was nun.' „Wer weiß“, dachte sie, „wie die anderen Blumen reagieren, wenn sie mich blühen sehen. Immerhin kennen sie mich nur als Knospe. Wenn ich jetzt mein Innerstes nach außen kehre, würden manche möglicherweise lachen.“ Und ausgelacht werden wollte sie auf gar keinen Fall!
    Da fielen ihr auch wieder alle Bedrohungen ein, die draußen auf sie lauern konnten. War nicht gerade erst der stolze Rittersporn vom Nachtwind umgeweht worden? Und die Margeriten: Fast das ganze Beet hatte dieses Mädchen gestern gepflückt, einfach abgerissen. Nein, danke! Das sollte ihr nicht
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