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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit
Autoren: Körner
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passieren.
    Trotzdem — irgendwo drängte es sie, auch mitblühen zu können, die Sonnenstrahlen mit ihren Blütenblättern aufzufangen und den kühlen Regen zu genießen, sich einfach in die wunderbare Farbenvielfalt einzufügen. Überhaupt: Wie mochten ihre Blütenblätter wohl aussehen? Sie fürchtete sich, vielleicht häßlich zu sein — war aber auch neugierig auf sich selbst. Wenn wirklich mal ein Blatt abfallen sollte, schien das so schlimm nun auch wie-
    der nicht zu sein; die anderen hörten ja deswegen nicht gleich mit dem Blühen auf, wirkten keineswegs häßlich dadurch.
    Schließlich wurde es Ende August. Immer schwerer wurde ihr die Entscheidung. Angst und Neugier, Sicherheit und Lebenslust kämpften in ihrer Blumenseele, ohne daß eine Seite die Oberhand gewann. Konnte die Blume jetzt noch ein solches Risiko eingehen? Immerhin war sie mittlerweile eine alte Knospe. Vielleicht sollte sie einfach doch noch etwas warten, bis sie ganz sicher war. Sicher? In mancher Sommernacht gestand sie sich ein, daß sie in ihrer Sicherheit immer unsicherer wurde. Sie war immer nur Knospe gewesen, hatte keinerlei Erfahrung im Blühen. Und doch — in ihr wuchs immer mächtiger eine Ahnung, wie schön das Blühen sein mußte. Wie gut stand den Malven ihr Rosa zu Gesicht. Wie fröhlich wippten die Wicken im  Wind! Wie beeindruckend erhoben sich über alle die saftgelben Sonnenblumen! Und so wurde sie eine immer traurigere Knospe. Von lag zu 'lag fühlte sie deutlicher, wie sich in all ihrer Sicherheit Stillstand und Leere zeigten. Sie war zwar eine sichere Knospe — im Herzen aber eine Blume, die sich nicht zu entfalten wagte.

     
    Im September wurden die Sonnenstrahlen milder und das Blumenbeet langsam leerer. Da wußte die Blume plötzlich, daß sie sich jetzt entscheiden mußte. Mit dem September nahte auch schon der Herbst.  Womöglich könnte sie dann erfrieren, obwohl sie sich beinahe schon erfroren fühlte hinter ihren Knospenmauern. Und dann, an einem besonders schönen Septembermorgen, arbeitete sie sich doch noch aus ihrer inzwischen harten Schale hervor. Sie wurde eine phantastische Blüte und erntete viel Bewunderung. Am meisten aber freute sie sich, daß sie endlich den Mut zum Blühen gefunden hatte. Sie ließ ihre Farben weithin leuchten, spielte mit Wind und Sonne, war einfach glücklich. Sie wußte jetzt, daß Blühen nichts mit Können zu tun hat, sondern mit Sein.
    Es ist nicht überliefert, was aus ihr geworden ist. Vermutlich wird sie nur kurz geblüht haben, da sie sich so lange nicht entscheiden konnte. Aber sie war noch zu einer herrlichen Blume aufgeblüht, damals im September.
     

Lucy und Heinz Körner
    Der dritte Kontinent
     
    E s gab einmal eine Zeit, von welcher niemand mehr etwas weiß. Damals gab es nur zwei Kontinente auf unserer Welt — und sie lagen noch nah beieinander. Auf beiden Kontinenten lebten Menschen, wenn sie auch von Grund auf verschieden w 7 aren. Und es ging die Sage um, daß es noch einen dritten Kontinent gebe, irgendwo im Meer, und daß alle ursprünglich von diesem geheimnisumwitterten Kontinent kämen, ja — eines Tages daraus vertrieben worden seien. Aber so richtig glaubte niemand daran, denn keiner konnte je berichten, daß er diesen Kontinent gesehen habe. Und so hielt man schon damals die Geschichte des Kontinents ’Sei’ für ein Märchen, so wie die Menschen heute auch die Geschichte der beiden Kontinente ’Nim’ und ’Gib’ für ein Märchen halten.
    Auf ’Nim’ lebten damals drei Mädchen, die oft über ’Sei' redeten und nicht glauben konnten, daß die Sagen über ’Sei’ nur erfunden sind. Sie nahmen sich vor, sobald wie möglich nach ’Sei’ zu suchen und unterwegs einen Abstecher nach ‘Gib’ zu machen. Nun hatten auch damals viele Kinder solche Träumereien und Ideen, doch diese drei Mädchen mit den Namen Eva, Shulamith und Lilith waren so überzeugt von ihrem Traum, da/3 sie ihn wahr machten, sobald sie sich alt und stark genug dazu fühlten. Ihre Eltern und Freunde konnten sie nicht verstehen, denn jeder Mensch auf ’Nim’ lernte, daß es dumm ist, irgendwelchen Phantasien und Träumen nachzuhängen. Das Leben sollte realistisch gesehen werden und jeder sollte versuchen, etwas aus sich zu machen. Dazu war es nötig, zu lernen, sich durchzusetzen, andere ständig auszunützen und nur an die eigene Karriere zu denken. Jeder Mensch bekam dort auf seinen Lebensweg den Satz mitgegeben: „Nimm, was du kriegen kannst — und wenn
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