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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit
Autoren: Körner
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Baum mitfühlend an. „Den hat bestimmt niemand richtig lieb. Schau mal, wie ordentlich der gewachsen ist. Ich glaube, der wollte mal ganz anders wachsen, durfte aber nicht. Und deshalb ist er jetzt traurig.“
    „Vielleicht“, antwortete der Vater versonnen. „Aber wer kann schon wachsen wie er will?“
    „ Warum denn nicht?“ fragte das Mädchen. „Wenn jemand den Baum wirklich lieb hat, kann er ihn auch wachsen lassen, wie er selber will. Oder nicht? Er tut doch niemandem etwas zuleide.“ Erstaunt und schließlich erschrocken blickte der Vater sein Kind an. Dann sagte er: „Weißt du, keiner darf so wachsen wie er will, weil sonst die anderen merken würden, daß auch sie nicht so gewachsen sind, wie sie eigentlich mal wollten.“
    „Das verstehe ich nicht, Papa!“
    „Sicher, Kind, das kannst du noch nicht verstehen. Auch du bist vielleicht nicht immer so gewachsen, wie du gerne wolltest. Auch du durftest nicht.“
    „Aber warum denn nicht, Papa? Du hast mich doch lieb und Mama hat mich auch lieb, nicht wahr?“
    Der Vater sah sie eine Weile nachdenklich an. „Ja“, sagte er dann, „sicher haben wir dich lieb.“
    Sie gingen langsam weiter und das kleine Mädchen dachte noch lange über dieses Gespräch und den traurigen Baum nach. Der Baum hatte den beiden aufmerksam zugehört, und auch er dachte lange nach. Er blickte ihnen noch hinterher, als er sie eigentlich schon lange nicht mehr sehen konnte. Dann begriff der Baum. Und er begann hemmungslos zu weinen.
     

Bruno Streibel und Heinz Körner
    Wie es weiterging

    I n dieser Nacht war das kleine Mädchen sehr unruhig. Immer wieder dachte es an den traurigen Baum und schlief schließlich erst ein, als bereits der Morgen zu dämmern begann.
    Natürlich verschlief das Mädchen an diesem Morgen. Als es endlich aufgestanden war, wirkte sein Gesicht blaß und stumpf. „Hast du etwas Schlimmes geträumt“, fragte der Vater.
    Das Mädchen schwieg, schüttelte dann den Kopf.
    Auch die Mutter war besorgt: „Was ist mit dir?“
    Und da brach schließlich doch all der Kummer aus dem Mädchen. Von Tränen überströmt stammelte es: „Der Baum! Er ist so schrecklich traurig. Darüber bin ich so traurig. Ich kann das alles einfach nicht verstehen.“
    Der Vater nahm die Kleine behutsam in seine Arme, ließ sie in Ruhe ausweinen und streichelte sie nur liebevoll. Dabei wurde ihr Schluchzen nach und nach leiser und die Traurigkeit verlor sich allmählich. Plötzlich leuchteten die Augen des Mädchens auf, und ohne daß die Eltern etwas begriffen, war es aus dem Haus gerannt.
    Wenn ich traurig bin und es vergeht, sobald mich jemand streichelt und in die Arme nimmt, geht es dem Baum vielleicht ähnlich — so dachte das Mädchen. Und als es ein wenig atemlos vor dem Baum stand, wußte es auf einmal, was zu tun war. Scheu blickte die Kleine um sich. Als sie niemanden in der Nähe entdeckte, strich sie zärtlich mit den Händen über die Rinde des Baumes. Leise flüsterte sie dabei: „Ich mag dich, Baum. Ich halte zu dir. Gib nicht auf, mein Baum!“
    Nach einer Weile rannte sie wieder los, weil sie ja zur Schule mußte. Es machte ihr nichts aus, daß sie zu spät kam, denn sie hatte ein Geheimnis und eine Hoffnung.
    Der Baum hatte zuerst gar nicht bemerkt, daß ihn jemand berührte. Er konnte nicht glauben, daß das Streicheln und die  Worte ihm galten — und auf einmal war er ganz verblüfft, und es wurde sehr still in ihm.
    Als das Mädchen wieder fort war, wußte er zuerst nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Dann schüttelte er seine Krone leicht im Wind, vielleicht ein bißchen zu heftig, und sagte zu sich, daß er wohl geträumt haben müsse. Oder vielleicht doch nicht? In einem kleinen Winkel seines Baumherzens hoffte er, daß es kein Traum gewesen war.
    Auf dem Heimweg von der Schule war das Mädchen nicht allein. Trotzdem ging es dicht an dem Baum vorbei, streichelte ihn im Vorübergehen und sagte leise: „Ich mag dich und ich komm bald wieder.“ Da begann der Baum zu glauben, daß er nicht träumte, und ein ganz neues, etwas seltsames Gefühl regte sich in einem kleinen Ast.
    Die Mutter wunderte sich, daß ihre Tochter auf einmal so gerne einkaufen ging. Auf alle Fragen der Eltern lächelte die Kleine nur und behielt ihr Geheimnis für sich. Immer wieder sprach das Mädchen nun mit dem Baum, umarmte ihn manchmal, streichelte ihn oft. Er verhielt sich still, rührte sich nicht. Aber in seinem Innern begann sich etwas immer stärker zu regen. Wer
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