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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit
Autoren: Körner
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brutaler Gewalt, versuchte jeder einzelne, möglichst nahe an den Topf zu kommen. Und plötzlich fiel dem Mann auf, daß all die Menschen, die sich um den dampfenden Topf drängten, in ihren Händen riesige Löffel hielten. Diejenigen, die am nächsten heim Topf standen, versuchten mit diesen Löffeln, die Speisen aus dem Topf zu fischen, um endlich ihren Hunger zu stillen. Die gefüllten Löffel waren jedoch viel zu lang und schwer für sie. Obwohl sie sich verrenkten und es immer und immer wieder versuchten, gelang es keinem, die verlockenden Speisen an den hungrig aufgerissenen Mund zu führen. Zwar konnte ab und zu der eine oder andere seinen gefüllten Löffel aus dem dichten Wall von drückenden und stoßenden Menschen retten, ohne allzuviel zu verschütten. Doch dann mußte er feststellen, daß seine Arme viel zu kurz waren, um den langen und schweren Löffel an den Mund zu führen. Alle Versuche der ausgehungerten Menschen, sich die Nahrung in den Mund zu schieben, endeten damit, daß die Löffel umkippten oder umgestoßen wurden und die Speisen in der Erde versickerten.
    Als dies der Ratsuchende erkannte, erschrak er. „Das ist ja schrecklich! Welche Qualen müssen diese Menschen erleiden. Dies ist wirklich die Hölle.“
    „Ja“, murmelte der Weise, und jetzt lächelte er nicht mehr, „und das Furchtbare dabei ist, daß diese Menschen ganz genau wissen, was sie tun.“ Fr zog sich seine Decke noch dichter um die Schultern, als ob ihn frösteln würde. „Aber komm jetzt weiter. Ich will dir den Himmel zeigen.“
    Nur zu gerne folgte der Suchende dem Weisen und noch lange hörten sie auf ihrem Weg durch den Berg die Schmerzensschreie und das Stöhnen der ausgehungerten Menschen. Der Weg führte sie weiter in den Berg hinein. Wieder war es lange dunkel, eng und sehr beschwerlich zu gehen. Oft stolperte der Suchende, während der Weise, so als ob er diesen Weg ganz genau kennen würde, leicht und sicher über jede Bodenunebenheit schritt und auch den scharfkantigen Felsvorsprüngen des Ganges auswich. Dann endlich öffnete sich der schmale Weg und sie fanden sich wieder in einem großen Raum. Dieser unterschied sich durch nichts von dem ersten. Auch hier sahen sie tausende von Menschen. In der Mitte des Raumes stand der große Topf und es schien dem Ratsuchenden, als würden in ihm dieselben herrlichen Speisen gekocht. Im Gegensatz zur Hölle jedoch war es hier angenehm ruhig. Die Menschen standen zu zweit oder in kleinen Gruppen und sprachen miteinander.
    „Ich verstehe nicht“, murmelte der Suchende erstaunt und mehr zu sich selbst. „Dies soll der Himmel sein? Hier sieht es doch genauso aus, wie in der Hölle. Die Menschen haben sogar dieselben Löffel in den Händen. Diese Löffel, die zu lang und schwer sind, um damit essen zu können.“
    Der  Weise hatte sich inzwischen auf einen großen Stein am Eingang gesetzt. Fr schaute in den Raum und es schien, als würde er sich freuen.
    „Ja, ja. Du hast recht“, erwiderte er, drehte sich zu dem Ratsuchenden um und lächelte mit kleinen Funken in den Augenwinkeln. „Hier ist es wirklich genauso wie im ersten Raum. Und doch gibt es Unterschiede.“
    „Aber“ — der Suchende war so aufgeregt, daß er den Arm des Weisen packte - „ich kann keine feststellen. Schau doch, es ist alles genau gleich. Der Raum, der Topf auf dem Feuer, die vielen Menschen und die viel zu langen und schweren Löffel. Und trotzdem ist es hier ruhig. Alle sehen zufrieden aus. Die Menschen reden miteinander und scheinen satt zu sein. Wie kommt dies?“
    „Warum schaust du mich an, wenn du eine .Antwort auf diese Frage willst? Schau hinüber. Dort findest du die Antwort.“ Die Augen des Weisen verschwanden fast hinter den großen Lachfalten. „Wozu hast du eigentlich Augen, wenn du damit nicht sehen kannst, was wirklich ist. Vertraust du darauf, daß ich dir sagen werde, was du siehst?“
    Lachend tanzte der Kopf des Weisen, während er sich die Decke von den Schultern zog. Fr schien sich wirklich sehr wohl zu fühlen. Der Ratsuchende blickte wieder in den Raum, und plötzlich bemerkte er an dem großen Topf, der allen Menschen reichlich Nahrung bot, zwei Männer.
    „Sieh doch!“ Er zerrte den Weisen von seinem Stein und wies mit der Hand in Richtung des Topfes. „Keiner stört sie dabei, wenn sie sich Nahrung holen wollen. Da - schau! Der eine kann seinen langen Löffel in aller Ruhe in den Topf tauchen. Und jetzt, jetzt hält er den gefüllten Löffel, um den anderen
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