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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit
Autoren: Körner
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stark genug gewesen war, hatte er es geschafft. Und seitdem hatte er im Grunde nur für diese kurzen Augenblicke gelebt, in welchen er eine Ahnung fühlte von Sonne und Freiheit. Da es ihm an Essen und Trinken selten mangelte, ihm sonst nichts zu fehlen schien, hatte er sich inzwischen mit diesem Leben abgefunden.
    Dann, eines Tages, hatte er gespürt, daß ihn die Kraft verließ. Seine guten Tage waren seltener geworden; er hatte sich gefürchtet, nie wieder einen Blick auf die Sonne werfen zu können. So hatte er sich also entschieden, beim nächsten Mal die Gitterstäbe nicht mehr loszulassen. Mit der Zeit hatte er vergessen, was vorher gewesen war, erinnerte sich kaum an die Zelle, den Gang und die Wächter.
    Unbestimmte Ängste und Befürchtungen hatten sich in ihm eingenistet. Und ab irgendeinem Zeitpunkt konnte er sich, selbst wenn er gewollt hätte, nicht mehr fallen lassen. Zu groß war die Angst vor dem Aufschlag und vor der Dunkelheit — zu groß die Angst, mühsam vergessene Enttäuschungen wieder erleben zu müssen.
    Nun hing er an den Stäben, festgeklammert, verkrampft und voller Furcht. An starken lagen gelang es ihm immer noch, sich hochzuziehen und sein Gesicht zwischen die Stäbe zu pressen. Aber es wurde mit zunehmendem Alter seltener, erfüllte ihn aber dennoch mit Freude und Wehmut.
    Irgendwann vergaß er die Wächter, die Zelle, den Gang und das licht an seinem Ende endgültig. Für ihn gab es nur noch einen winzigen Lebensbereich: das Fenster, die Gitterstäbe und die immer selteneren Blicke auf die Sonne. So starb der Mann, wie er seine letzten Jahre verbracht hatte: festgeklammert an dem, was er für wichtig und lebenswert gehalten hatte.
    Als man ihn irgendwann einmal fand, verstand niemand, was da geschehen war. Die Wächter waren längst verschwunden, die Tür der Zelle offen, der Weg in die Freiheit nicht leicht, aber durchaus zu bewältigen. Der Mann hätte nur loszulassen brauchen, sich nur fallenlassen. Vielleicht hätte er sich verletzt, vielleicht auch die Tür erst nach langem Umhertasten in der Dunkelheit gefunden. Auch der dunkle  Weg durch den langen Gang hätte ihm sicherlich Abschürfungen beigebracht, ihn manchmal geängstigt. Aber er hätte jederzeit die Zelle und den Gang verlassen können; niemand hätte ihn gehindert.
    Weil er den Mut zu einem Versuch nicht gefunden hatte, war es ihm niemals möglich gewesen, sein Leben zu ändern. Er hätte nur hinauszugehen brauchen, hinaus in die Freiheit — und hätte in der Sonne leben können.
     

Roland Kübler
    Eine Insel im See
     

    I rgendwann vor langen Jahren lebte ein kleines Mädchen mit seinen Eltern auf einer wunderschönen Insel in einem großen See. Die Pflanzen wuchsen wild und frei und quollen aus dem fruchtbaren Boden empor. Die meiste Zeit des Jahres schien die Sonne warm und hell. Das Mädchen war glücklich, so glücklich wie nur jemand sein kann, der noch nichts vom Leid dieser Welt erfahren hat. Seine Eltern achteten voll liebender Zuneigung darauf, daß nichts das Lachen ihrer Tochter trüben konnte. So wuchs das Mädchen heran, genoß die Warme der Sonne, den herrlichen Inselstrand und die farbenfrohen Pflanzen und Blüten, die in unermeßlichem Reichtum auf der Insel gediehen.
    Eines Tages legte ein fremder junger Mann mit seinem Boot an der Insel an. Das Boot war einfach und nicht mehr sehr neu. An manchen Stellen war die Farbe abgeblättert.  Wind und Wellen hatten schon einige Löcher in das Holz gefressen. Trotzdem hielt es sich noch gut über Wasser und der junge Mann ruderte oft mit dem Mädchen ein wenig vor die kleine Insel. Zum ersten Mal sah sie den Ort ihrer Kindheit vom See aus.  Wie ein glänzender Edelstein lag die Insel im tiefblauen Wasser. Nichts und niemand schien ihr etwas anhaben zu können. Auf einer dieser abendlichen Fahrten um die Insel — die Sonne tropfte rotglühend in den löschenden See — verliebten sich die beiden ineinander und beschlossen, gemeinsam weiterzuleben. Die Eltern des Mädchens waren davon überhaupt nicht begeistert. Sie konnten nicht glauben, daß ihre Tochter eine Insel finden würde, die sich mit dieser hier vergleichen lassen könnte. Aber der junge Mann und das Mädchen waren fest entschlossen, und so fanden sich die Eltern schließlich damit ab. Um nun ihr Kind möglichst gut für das neue Lehen auszurüsten, packten sie alle Dinge zusammen, die ihrer Überzeugung nach wichtig für das Mädchen waren. Es wurde ein großes Paket, und die Eltern
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