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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume
Autoren: Rose Tremain
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opfern?«
    Er erklärte ihr freundlich, dass es im Herbst wenig zu pflanzen gab und dass sie im ersten Winter von dem leben müssten, was sie mitnahmen – Tee, Mehl, Kekse, Sardinen, Zucker und Schinken –, und von Hammelfleisch, das sie von der Orchard-Farm, der größten Schafzucht in der Okuku-Ebene, kaufen würden. Und er gestand ihr auch, dass er Ruhe brauche. Seine Füße waren voller Blasen, seine Hände rissig und rau. Und vom Schlafen mit dem Kopf in der Armbeuge tat ihm der Nacken weh.
    Und so blieben sie noch drei weitere Wochen in Mrs Dinsdales Quartier und machten Listen: fünfundzwanzig Legehennen und ein Hahn, eine Milchkuh, ein Esel, Hafer, Maissamen, Setzlinge, Zaunpfähle, Draht …
    Joseph und Harriet taten jetzt alles gemeinsam, machten Notizen und rechneten, handelten fieberhaft, sichteten, verwarfen und kauften, während gleichzeitig Lilians Singstimme, wie aus Protest gegen die drohende Vertreibung aus dem letzten Zipfel der zivilisierten Welt, plötzlich eine neue, unerträgliche Perfektion zu erreichen schien. Unterdessen liefen die beiden Arm in Arm von einem Ende der Stadt zum anderen. In einigen Läden kannte man sie inzwischen, den hoch aufgeschossenen Joseph Blackstone und seine fast ebenso große, leicht erregbare Frau.
    Harriet fiel der überstürzte Kleiderkauf in England ein, und sie erklärte Joseph, wie viel besser ihr dies hier gefalle, diese »Farmbesorgungen«, und dass sie sich jetzt endlich ihre gemeinsame Zukunft vorstellen könne. Sie sei so stolz auf ihn, sagte sie. Sie sah ihn mit einem neuen Gefühl des Verlangens an. Und während sie in McKinleys Eisenwarenladen mit ihren langen Fingern über die Schneide einer Sense fuhr, sagte sie: »Joseph, wir sollten nicht zulassen, dass unser neues Leben nur irgendwie anfängt und dann einfach so weggleitet.«
    Weggleitet? Was meine sie denn damit?
    Oh, das wisse sie auch nicht so genau, sagte sie. Aber sie finde, dass es etwas geben müsste – eine Art Markierung . »Es muss einen Sinn haben«, meinte sie schließlich.
    Im Stillen beschloss Joseph, sich Mühe zu geben und in jedem Tag einen »Sinn« zu finden. In der Morgendämmerung, die sich mit ihrem Licht durch die blaugrünen Blätter arbeiten würde; im unaufhörlichen Rauschen und Strudeln des Harriet-Bachs; sogar in den kalten Nächten, wenn die flugunfähigen Vögel rufen, aus ihren Höhlen und Verstecken rufen würden. Er wollte sich Mühe geben, und er hoffte, mit Erfolg.
    Doch dann sah er Harriets Gesicht, das sich in der geschliffenen Schneide der Sense spiegelte. Meinte sie etwas anderes? Er wartete, stand stumm und aufrecht da und verbarg den plötzlichen, brennenden Schmerz in der Brust.
    »Also?«, fragte sie.
    »Natürlich wird es … einen Sinn haben«, stammelte er.
    »Und«, sagte sie fröhlich, drehte sich zu ihm um und berührte seinen Arm, »nach uns?«
    Da war sie. Die gefürchtete Frage. Jetzt war sie da und würde immer da sein.
    »Nach uns?«
    Für einen kurzen Moment lehnte sie ihr Gesicht an seine Schulter. Er roch nach dem Staub in diesem Laden, nach Schlacke oder Asche, nach etwas Verbranntem und Vergangenem.
    »Meinst du nicht, es könnte ein Kind geben?«
    Mehr als ohnehin schon versuchte er jetzt, sich aufrecht zu halten, sie nicht spüren zu lassen, wie gern er sich ihr entwinden würde und seine Herzgegend so lange massieren, bis es nicht mehr weh tat. Er versuchte zu schlucken, aber sein Speichel klebte im Mund, und er musste ein Taschentuch nehmen und sich die Lippen abwischen.
    »Harriet«, begann er, »ich habe nie…«
    »Was hast du nie?«
    »Das habe ich mir nie vorgestellt. Ich dachte immer, dein Alter …«
    »Ich bin vierunddreißig, Joseph.«
    »Eben.«
    Sie hätte ihm sagen können, wie heftig sie jeden Monat blutete, wie viele elende Lappen eingeseift und gewalkt und gespült und an einer Stelle aufgehängt werden mussten, wo niemand sie sah. Aber sie kannte ihn nicht gut genug, um über soetwas zu reden. Sie legte die Sense aus der Hand und lief an der langen Reihe funkelnagelneuer Gerätschaften entlang, die an McKinleys provisorischen Wänden angebracht waren, und er folgte ihr in einigem Abstand.

B EAUTYS M ANTEL
I
    Harriet wusste, dass Joseph nachts wach lag. In ihrem Zimmer aus zitternden Kattunwänden hörte sie ihn seufzen.
    »Was ist?«, fragte sie immer wieder.
    Er konnte ihr nicht sagen, dass er fürchtete, das Haus stehe am falschen Platz, konnte ihr auf keinen Fall sagen, dass er zu verbohrt gewesen sei, um den Rat
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