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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume
Autoren: Rose Tremain
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sein, nicht Küsse – jedenfalls nicht viele –, nicht geflüsterte Vertraulichkeiten oder Lachen.
    Aber er sprach weiter von Neuseeland, und sie hörte weiter zu, und während sie zuhörte, lag sie gerne ganz nah bei ihm, um das Heben und Senken seiner Brust beim Atmen zu spüren.
    Eines Abends erzählte er ihr von den Ureinwohnern. Sie wurden Moa-Jäger genannt. Sie töteten den Riesenvogel Moa und ernährten sich von seinem Fleisch und bauten Hütten aus seinen Knochen und schliefen in seine Federn gehüllt. Sie jagten ihn so lange, bis er ausgestorben war, und dann blickten sie ungläubig um sich. Sie wussten nicht, wovon sie leben sollten, außer vom Moa, und so wurden sie krank und starben. »Und das«, sagte Joseph, »lehrt uns etwas Wichtiges, Harriet. Wir werden es nicht machen wie die anderen. Wir werden uns dort drüben als neugeboren betrachten. Auf dem Land, das ich kaufen werde, fängt alles von vorne an.«
    Sie lagen in seinem Schlafzimmer in Lilians Haus, und die Dunkelheit Norfolks drang durch das halb geöffnete Fenster und legte sich schwer auf sie. Harriet gefiel es, dass ihr frisch angetrauter Ehemann das Wort »neugeboren« benutzte. Sie nahm seine Hand und schlief ein und träumte, sie schliefe, in die Federn eines braunen Vogels gehüllt.
    Nachdem Harriet von ihrem Ausflug zum eingestürzten Haus in Mrs Dinsdales Quartier zurückgekehrt war, betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Ihr Haar hatte sich in der Nachmittagshitze gekräuselt, ihre Wangen waren rosig und feucht. So hatte sie noch nicht oft ausgesehen, so wild und erregt und verschwitzt. Aber es änderte sich ja auch alles in ihrem Leben. Es war keine sechs Monate her, da hatte sie Joseph Blackstone noch nicht einmal gekannt; jetzt war sie seine Frau und trug seinen Namen. Fast so wie die Erde nach den berstenden Dachsparren, hatte er nach ihr gerufen, und sie hatte geantwortet.
    Obwohl Lilian klagte, es sei »zu heiß zum Singen«, begleitete sie Mrs Dinsdale eines Mittwochabends zu dem frisch gegründeten Laura-McPherson-Gesangverein.
    Der Verein besaß keine eigenen Räumlichkeiten, sondern traf sich in der Lagerhalle eines Bekleidungsgeschäfts, in dem Mrs McPherson die Hutschachtelstapel und die Schränke mit Mänteln und Kleidern in Leinenhüllen »in einer akustisch vorteilhaften Weise« hatte anordnen dürfen. Der Raum, in den man ein kleines Klavier geschafft hatte, war dunkel und kühl wie eine Kirche. Laura McPherson drehte dort ihre Kontrollrunden, rückte alles noch einmal zurecht, sogar den Löscheimer des Tuchhändlers und seinen Bügeltisch. Dann staubte sie ihren mächtigen Busen ab, stellte sich vor die versammelten Frauen und trug ihnen mit ihrer weichen, kehligen Altstimme »Jesus, vernimm mein Lied am Nachmittag« vor.
    Lilian hörte zu und war bewegt. Sie fühlte sich »in die Zivilisation« zurückversetzt und stieß einen langen, melancholischen Seufzer aus. Sie hoffte, ihre Stimme werde für ausreichend befunden. Und sie hoffte, dass auch diese Frauen zu Freundinnen wurden wie die gute Mrs Dinsdale. Einen Moment lang wagte sie sich sogar vorzustellen, sie könnten sich bei Joseph für sie verwenden und ihm erklären, von einer Person ihres Alters und ihrer Herkunft (als Tochter eines Pfarrers hatte sie sich dem Viehauktionator Roderick stets überlegen gefühlt) könne wirklich und wahrhaftig nicht erwartet werden, dass sie in die Berge oder in den Busch ging, um einsam und ungehört, nur für Vögel und Wind, Klavier zu spielen und zu singen …
    Dann dachte sie an das Geld. Fast alles, was ihr und Joseph geblieben war, war für die Passage auf der SS Albert und für die »Farm« draufgegangen. Wie von Rüsselkäfern oder Staubmilben würde der Rest durch den trostlosen Kauf von Getreidesaaten, Geflügel und Schweinen aufgezehrt werden. Es würde nichts übrig bleiben, wovon sie in Christchurch leben könnte. Und betteln oder borgen, dankbar irgendeine Art von Almosenannehmen, das kam für Lilian Blackstone nicht infrage. Sie hatte ihren Stolz. Wulla . Und der würde sie in die Wildnis begleiten. Er wäre das Einzige, was niemand ihr nehmen konnte.
    Jetzt blieb ihr nur noch, sich eine Halspastille in den Mund zu stecken und beim Austeilen der Noten zu helfen. Sie setzte ihre Brille auf und sah, dass sie als erstes Stück »Schwinget das flammende Banner« üben würden. Das hatte sie einst in Cromer gesungen. In einer für sie sehr stürmischen Zeit. Damals hatte das Meer sich vor ihr zu einer grauen Wand
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