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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume
Autoren: Rose Tremain
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aufgetürmt und war auf sie zugerollt.
    Während die Frauen sich in einer ordentlichen Reihe aufstellten und die schwierige zweistimmige Melodie vom »Flammenden Banner« zu üben begannen, öffnete Harriet die Tür zu Lilians Zimmer und trat ein.
    Sie stand auf dem Perserteppich und blickte sich um. Neben Lilians Bett lag die Pastellzeichnung von einem Kind, das ein Kleidchen trug. Harriet nahm sie hoch, und an den dunklen Locken und dem etwas finsteren Blick erkannte sie, dass das Kind Joseph war. Er saß in einem großen Sessel und hielt sich mit seinen Babyfingern an den gepolsterten Lehnen fest, als wäre der riesige Sessel eine Kutsche, die holpernd durch eine gefährliche, unbekannte Landschaft fuhr. Sie legte das Bild wieder auf Lilians Nachttisch neben eine Flasche Kölnisch Wasser und ein leinernes Taschentuchtäschchen. Auf Lilians Bett war liebevoll, als wäre es für einen anderen und nicht für sie, eine wollene weiße Stola ausgebreitet, in die sie sich nachts gern einwickelte. Harriet berührte sie an einer Ecke und roch ihre Schwiegermutter; eine Mischung aus Rosenwasser und etwas Pfefferminzartigem – ein scharfer Geruch, den man nicht lange ertrug.
    Harriet setzte sich aufs Bett. Das Zimmer sah sehr ordentlich aus. Alles schien an seinem Platz zu sein, sogar das Palmblattkreuz an der gegenüberliegenden Wand, das mit einem unauffälligen Nagel im Profilbrett befestigt war. Daneben hing eine gerahmte Zeichnung des großen Kreuzes auf dem Marktplatz von Parton Magna in Norfolk.
    An die Tür des Kleiderschranks hatte Lilian ihre zweitbeste Haube gehängt, deren Bänder dort, wo sie sie unter dem Kinn stets fest zuband, verknittert waren. Und während Harriet all dies betrachtete, dachte sie, wie hart es sein musste, alt zu werden und ein bröseliges Kreuz an der Wand zu befestigen, einen kleinen Jungen in einem Kleid anzustarren und nicht zu wissen … nicht zu wissen, wie viel Zeit einem noch blieb und ob der Mann, der einst dieses Kind war, sich um einen kümmern würde oder nicht …
    Arme Lilian.
    Arme, unglückliche Lilian.
    Harriet saß sehr still auf dem Bett und betete darum, dass sie, bevor ihr eigenes Leben sich auf solch ein unsicheres Ende zu bewegte, wenigstens irgendetwas Außerordentliches und Unvergessliches gesehen oder erlebt haben würde.
VII
    Es war schon Herbst, als Joseph zurückkehrte. Herbst im April.
    Er sah mager aus, und sein Gesicht war wettergegerbt und braun. Aber er triumphierte: Das Lehmhaus war gebaut. Es gab eine Weide für den Esel und ein Hühnergehege aus Binsen und Draht. Und die Abendwolken über der Ebene hatten die Farbe roten Lehms.
    Lilian weinte. Halb hatte sie gehofft, das Haus würde nur in Josephs Kopf existieren und niemals Wirklichkeit werden. Doch jetzt war es da. Sie zog ein von Mrs Dinsdale gebügeltes sauberes Spitzentaschentuch hervor und hielt es sich, noch ordentlich zusammengefaltet, vors Gesicht. Joseph blickte sie bekümmert an. Dann versuchte er, ihr seinen Arm um die Schultern zu legen, aber sie stieß ihn fort.
    Lilian dachte an Rodericks graues Marmorgrab in Parton und an seinen Namen, der so schön schwarz in den Stein graviert war, so beständig gegen Sonne und Regen.
    Harriet verließ das Zimmer und wartete, dass Joseph zu ihr kam. Ihr Herz stand in Flammen, weil lehmrote Wolken und ein weißes Haus im Schatten schlanker Bäume sie erwarteten. Als seine Hand nach einiger Zeit ihr Gesicht bedeckte, schob sie sie weg. Denn Harriet wollte ihn jetzt in seiner Nacktheit, seinem aufgeregten Bemühen sehen – ihren Ehemann, der am Ende der Welt ein Haus gebaut und überlebt hatte. Sie zog sein Gesicht zu sich herunter und küsste ihn wie einen Fremden, mit einem harten, trockenen Kuss. Und während er sich aus ihr zurückzog, flüsterte er, dass er dem Bach ihren Namen gegeben hatte.
    »Ja«, sagte sie. »Mein Bach. Meiner!« Und sie umarmte ihn sehr fest.
    Sie wollte sofort zu der Farm aufbrechen. Rollwagen zum Transport von Lilians Porzellan und den Möbeln ließen sich problemlos mieten. Aber Lilian weigerte sich. Sie wollte es nicht einmal in Betracht ziehen. Der Laura-McPherson-Gesangverein würde am neunzehnten April sein erstes öffentliches Konzert geben, und sie hatte versprochen dabei zu sein, denn in »Flammendes Banner« gab es eine bestimmte hohe Note, die aus dem gesamten Anfängerchor allein ihre Stimme mühelos traf.
    »Eine Note«, sagte Harriet zu Joseph. »Wollen wir etwa die ganze Pflanzsaison einer einzigen Note
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