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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Madison Smartt Bell
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Sterblichen zueinander sagten. Es war mir unwichtiger als Vogelgezwitscher.
    Einer war dabei, den ich noch nie gesehen hatte, ein Indianer, zumindest sah er so aus. Er war groß und breit, hatte grobe Gesichtszüge, die durch das Alter wohl langsam weicher wurden, höchstwahrscheinlich auch durch den Alkohol. Das Weiß seiner Augen war karamellfarben, das Schwarz in der Mitte fern und tief. Er trug einen kreisrunden Hut mit einem Band aus silbernen und türkisfarbenen Münzen und etliche schwere Armbänder im selben Stil um beide Handgelenke. Er spielte, ohne seine Karten anzuschauen, so schien es. Die ganze Zeit sah er mich an oder durch mich hindurch, ohne Lust oder Begierde oder irgendeine Art von Interesse, die ich verstehen konnte. Ich fragte mich, was er wohl dachte, etwas, das ich normalerweise nie tue.
    Um Mitternacht hatte er alles verloren, was er dabeigehabt hatte, etwa achthundert Dollar, glaube ich. Er hievte sich aus seinem Sessel und ging. Rund eine Stunde später war er wieder da, ohne seinen Hut und die Armbänder und den Gürtel mit der dicken Schnalle. Soweit ich mich erinnere, hatte er keine Armbanduhr gehabt. Er begann mit hundert Dollar in frischen Jetons, und bis zwei Uhr morgens hatte er über tausend gewonnen. Er schob mir Jetons im Wert von achtzig Dollar als Trinkgeld hin und erhob sich, um den Rest an der Kasse einzutauschen. Als er sich zum zweiten Mal aus seinem Sessel stemmte, veränderte sich etwas in seinem Blick; nichts, was seiner Miene abzulesen gewesen wäre, aber dennoch wahrnehmbar. Ein Bär, der nicht hungrig ist, könnte einen so ansehen. Zwei Stunden später sah ich ihn wieder, irgendwo im Saal. Er trug den Hut und den ganzen Rest, den er gehabt hatte, als er am Anfang reingekommen war. Vielleicht schaute er kurz zu mir rüber, aber sein Gesicht war durch die breite Hutkrempe verborgen, die dunklen Augen in Schatten getaucht.
    Ich meldete mich ab und ging ins Restaurant: eine Art Diner-Imitation mit Schlafwagen-Dekor, jede Menge Chrom und rote Kunstlederhocker. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gibt es so einen in echt, aus einem richtigen Eisenbahnwagen, und manchmal hat mein Bruder mir dort einen Milchshake gekauft. In der Kasino-Version gab es natürlich überall, wo Platz war, Spielautomaten, und unter der Theke war vor jedem Hocker ein Videopoker angebracht. Ich saß da, trank wie meistens nach meiner Schicht Whiskey pur aus einem Wasserglas und sah zu, wie der Computer unter der schmierigen Glasscheibe unentwegt Pokerkarten verteilte.
    In einem Kasino gibt es keine Fernseher, damit auch ja keine Signale von der Außenwelt eindringen – aus demselben Grund gibt es auch keine Uhren und keine Fenster. Aber in dem falschen Diner waren zwei Fernseher angebracht, hoch oben in den Ecken an beiden Enden der Theke. Der Ton war fast immer abgestellt, und ich hatte sie zuvor kaum wahrgenommen. Vielleicht hatte ich nicht mal gewusst, dass sie da waren. Doch in jener Nacht, an jenem Morgen zeigten sie den Einsturz der Türme wieder und wieder, in ekstatischer Stille. Das Bild von Laurel schwamm wieder über den Bildschirm, auf die Knie geworfen, der Rücken zu einem Bogen gespannt, der Mund ein schwarzes Loch, als geißelten die Furien ihre Brust mit der Skorpionenpeitsche. Als wäre sie selbst eine Furie.
    Ich war hungrig und bestellte mir ein Prime-Rib-Steak, so roh, dass es in einer warmen Blutlache serviert wurde. Tammy runzelte die Stirn, als sie meinen Teller auf das Poker-Display stellte und sich eine Strähne ihres verwaschenen roten Haars hinters Ohr strich.
    »Mir ist schleierhaft, wie du so was essen kannst«, sagte sie, oder vielleicht auch:
Mir ist schleierhaft, wie du jetzt essen kannst
.

7
    Auf dem Nachhauseweg hielt ich kurz bei Walmart, um ein paar Videokassetten zu kaufen. Noch so ein fensterloser, zeitloser Kasten, ein großes Kasino. Der Laden bietet alles an, was für Geld zu haben ist. Etwas Wunderbares war geschehen, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Für die Kassetten musste ich in die Fernsehabteilung. Hunderte Geräte, vom kleinen tragbaren Modell bis hin zu riesigen Heimkinobildschirmen, und alle zeigten sie dieselbe Kaskade von Bildern. Vor diesem Schauspiel standen alle Sterblichen, die das Gebäude betreten hatten, völlig gebannt, wie zu Stein erstarrt. Sie waren überwältigt, sprachlos, von Ehrfurcht und Schrecken gefesselt. Es muss Geräusche gegeben haben, aber ich hörte sie nicht. Ich drehte mich wie eine Tänzerin vor all diesen
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