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Die Farbe der Liebe

Die Farbe der Liebe

Titel: Die Farbe der Liebe
Autoren: Vina Jackson
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mühte sich knarrend wie ein in die Jahre gekommenes Ungeheuer. Es schien, als wollte es sich von den Bolzen befreien, die seine eisernen Arme zusammenhielten, um sich wie ein riesiger Oktopus über die Wiesen des Parks davonzumachen.
    Aurelia strich sich die dunkelblonden Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Haarband gelöst hatten und hin und her wedelten. Der Wind gab ihr das Gefühl, sie würde mit der Wange an einer kühlen Glasscheibe lehnen. Sie unterdrückte den Drang, sich ihm entgegenzuwerfen und sich ihm vertrauensvoll auszuliefern; entweder würde er sie auffangen, oder sie fiele geradewegs hin. Doch dann beließ sie es dabei, ihm das Gesicht zuzuwenden und die Arme auszubreiten, als wollte sie das aufziehende Gewitter willkommen heißen. Sie lachte.
    »Spürst du das?«, rief sie zu Siv hinüber. Sie musste schreien, um das Wetter zu übertönen. »Da liegt was in der Luft. Halloween!«
    Sivs Lachen ging halb im Wind unter. Da sie ihr kurzes blondes Haar nicht gegelt hatte, war es vom Wind so zerzaust, dass es ihr in Büscheln vom Kopf stand und sie noch lausbübischer aussah als sonst. Jedes andere Mädchen wäre beleidigt gewesen, wenn man es immer wieder für einen Jungen hielt. Nicht so Siv. Sie mochte ihre knabenhafte Erscheinung.
    »Lass uns irgendwo reingehen«, meinte Aurelia. »Es wird gleich regnen.« Sie zog sich ihren schwarzen Fransenschal enger um die Schultern; doch da er sehr dünn war, konnte er sie kaum vor den Naturgewalten schützen.
    »Dann komm.« Siv nahm Aurelia an die Hand, zog sie wie gewohnt mit sich und betrat mit ihr die nächstbeste Attraktion. Es war ein mächtiges, dunkelgrünes, hoch aufragendes Gebilde, das sich so gut in die Umgebung einfügte, dass sie trotz seiner Größe beinahe daran vorbeigelaufen wären. Die Segeltuchtür schwang auf und schloss sich unmittelbar hinter ihnen wieder.
    Geruch von Schweiß, Feuchtigkeit und billigem Naschwerk stieg ihnen unangenehm in die Nase. Aurelia hatte plötzlich einen bitteren, metallischen Geschmack im Mund, als ob sie an einer Münze gelutscht hätte.
    »Ist da jemand?«, flüsterte sie in die Dunkelheit. Dann flackerte eine Glühbirne auf. Die beiden Mädchen bekamen einen Schreck und klammerten sich aneinander.
    »Tut mir leid«, sagte der junge Mann, der an der Kasse stand. »Kleines technisches Problem. Mit dem Licht, nicht mit der Bahn«, fügte er rasch hinzu. »Wollt ihr Karten?«
    Er hatte sich eine grüne Monstermaske aus der Stirn geschoben, unter der strubbeliges rotblondes Haar hervorlugte. Das Gummiband der Maske schnitt ihm unter dem Kinn tief in die Haut und machte einen roten Striemen. Aurelia juckte es in den Fingern, es zu lockern, aber sie griff nur in ihre Stofftasche und holte ihre Patchwork-Geldbörse mit dem Goldclip heraus, ein Geburtsgeschenk ihrer Pflegemutter.
    »Was ist das hier überhaupt?«, fragte sie. Nirgends gab es einen Hinweis oder eine Information über die Art des Fahrgeschäfts.
    »Die Geisterbahn«, antwortete der junge Mann nüchtern, als kündigte er die Abfahrt des nächsten Schnellzugs nach London an.
    Er schaute auf Aurelias Finger, als sie die Münzen abzählte. Sie hatte sich am Morgen die Nägel lackiert, und das satte Marineblau hob sich stark von ihrer blassen Haut ab. Siv hatte ihre mit dem hellen Grünton frischer Limetten angemalt, deren Saft sie gern in ihren Gin mischte, wenn sie ihn nicht gleich aus einem Flachmann trank.
    Aurelia wollte die Tickets entgegennehmen, doch der junge Mann hielt die weißen Papierstreifen einen Augenblick zu lange fest, ehe er sie losließ. Die Nägel seiner rechten Hand waren bis aufs Fleisch abgekaut, die seiner linken hingegen normal lang und sauber manikürt. Aurelia, die eine gute Beobachterin war, entging dieses kleine Detail nicht. Neugierig fragte sie sich, welche – einseitigen – Fehler der Junge wohl sonst noch so haben mochte.
    »Da durch.« Der Junge wies auf einen dünnen schwarzen Vorhang in seinem Rücken, ohne Aurelia auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Über der Öffnung hing ein grinsendes Plastikskelett, dessen bleiche Knochen längst vergilbt waren. Es gab einen Klagelaut von sich, als Siv es ungeduldig zur Seite schob.
    »Du gefällst ihm«, stellte sie sachlich fest und unterstrich diese Aussage mit einem weiteren Schluck aus ihrem silbernen Flachmann. Dabei wies sie mit dem Kinn auf die Umrisse des jungen Mannes, die durch den dünnen Vorhang noch zu sehen waren, als wollte sie betonen, dass sie
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