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Die Farbe Der Leere

Die Farbe Der Leere

Titel: Die Farbe Der Leere
Autoren: Cynthia Webb
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Klageschrift für einen besonders brutalen Missbrauchsfall aufsetzen, am Nachmittag steht dann der Irrsinn der Gerichtsanhörung bevor, und jetzt hat man eine inkompetente Idiotin vor der Nase und kann erst was essen gehen, wenn man sie losgeworden ist.
    Das Büro der ACS-Fallaufnahme war in einem schäbigen Bau gegenüber vom Gericht untergebracht. Die Mittagspause in einem miesen Imbiss würde Katherines Tag enorm aufwerten, aber sie kam hier nicht weg, ehe sie mit diesem neuen Prozessantrag fertig war. Erst hatte sie gehofft, Mrs. Ellie Jones – die kleine, selbstzufriedene Fallbetreuerin, die vor ihr saß – irgendwie missverstanden zu haben, aber diese Hoffnung hatte sich längst zerschlagen.
    »Also Sie sind einer Meldung von Kindesmissbrauch nachgegangen und fanden das Kind in Handschellen ans Bett gekettet, mit aufgeschürften und blau angelaufenen Handgelenken, richtig? Und das Kind sagt, dass es bereits seit Tagen in dieser Lage ausharrt, korrekt?« Sie versuchte, es nicht allzu sehr nach flammender Anklage klingen zu lassen, doch das war vergebene Liebesmüh. Mrs. Jones merkte überhaupt nichts.
    »Das hab ich Ihnen doch schon erzählt, Mrs. McDonald.«
    »Dann erklären Sie es mir noch mal. Warum haben Sie das Kind nicht kraft Ihrer Befugnis in Gefährdungsfällen sofort in Obhut genommen?«
    »Ich hab die Handschellen mitgebracht«, erwiderte Mrs. Jones zum dritten Mal seit Beginn des Gesprächs. Wieder zog sie die Handschellen aus der offenen Tasche auf ihrem Schoß und ließ sie hin und her baumeln.
    »Sie haben also die Handschellen mitgebracht und das Kind dort gelassen«, sagte Katherine ausdruckslos – eine letzte Chance für Mrs. Jones, einen Hauch von Einsicht zu zeigen.
    Mrs. Jones fand wohl, dass dies keine Antwort erforderte. Sie steckte die Handschellen wieder ein.
    Angesichts dieser erschütternden Niederlage änderte Katherine ihre Vorgehensweise. In ihrem strengsten Ton fragte sie scharf: »Haben Sie irgendeine Ahnung, was die Eltern in diesem Augenblick mit dem Kind anstellen?« Sokratische Gesprächsführung: Entbinde die Wahrheit Schritt für Schritt. Wenigstens manchmal war das Jurastudium zu etwas nütze.
    »Nein.« Mrs. Jones' Ton deutete an, dass ihr die Richtung, die das Gespräch nahm, nicht behagte. Für einen Augenblick glaubte Katherine, sie sei endlich durchgedrungen. Dann fügte Mrs. Jones hinzu: »Sie können ihm jedenfalls keine Handschellen mehr anlegen.«
    »Diesen Eltern fehlt doch eindeutig jeder Sinn für angemessene Erziehungsmethoden, können Sie mir so weit zustimmen?«
    Mrs. Jones riskierte ein knappes, nervöses Nicken.
    »Man kann also sagen«, fuhr Katherine fort, »dass das Kind hochgradig gefährdet ist. Bei unmittelbarer Gefährdung ist das Kind in Obhut zu nehmen und zur Anrufung des Familiengerichts herzubringen.« In Mrs. Jones' Blick schien ein schwacher Funke des Begreifens zu dämmern. »Aber dem Kind wird schon nichts passieren, denn Sie haben ja die Handschellen mitgebracht«, schloss Katherine ätzend, und Mrs. Jones nickte erleichtert, sichtlich zufrieden, dass die ACS-Anwältin es endlich kapiert hatte.
    Katherine gab den Versuch auf, die Abgründe von Mrs. Jones' Bewusstsein zu durchdringen, und entließ sie. Dann schrieb sie Mrs. Jones' Vorgesetzter eine Mail mit der Anweisung, sofort jemand anderen zu der Wohnung des bis vor kurzem gefesselten Kindes zu schicken. Am Nachmittag konnte die Anhörung stattfinden, und Katherine würde beim Richter eine Verfügung beantragen, die den Eltern umgehend das Sorgerecht entzog. Noch etwas, worauf sie sich freuen konnte: Vor dem Richter war sie dann der einzig greifbare Blitzableiter für seinen berechtigten Grimm darüber, dass sich das Kind trotz der dramatischen Umstände nach wie vor in der Obhut seiner fesselwütigen Eltern befand.
    Ihre Stimmung hob sich jedoch, sobald sie das triste Gebäude verließ. Sie ging an den blauweißen Gefangenentransportern mit dem Kaninchendraht vor den Scheiben entlang, überquerte die 161. Straße und erreichte den breiteren Gehweg vor dem kastenartig aufragenden grauen Bau, den sich Familiengericht und Strafgericht teilten. Die Mittagssonne schien ihr warm auf den Kopf. Es war am Morgen kühl gewesen und würde abends kalt werden, aber im Moment war es angenehm mild. Der lange Indianersommer zog sich diesmal bis in den November.
    Sie wandte sich nach rechts, überquerte die Sheridan Avenue und entdeckte Annie und Diane in einer Sitznische, sobald sie die Glastür
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