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Die Farbe Der Leere

Die Farbe Der Leere

Titel: Die Farbe Der Leere
Autoren: Cynthia Webb
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durchkommen, ohne Joses Aussage überhaupt zu brauchen.
    Der Anwalt der Eltern mochte jedoch anführen, dass der Junge Möglichkeiten hatte, die Wohnung zu verlassen, auf Abenteuer auszugehen und sich die Geschlechtskrankheiten auf eigene Faust zuzuziehen. Diese Erklärung war allerdings schon gewagt, was seinen siebenjährigen Bruder betraf, und würde bei der fünfjährigen Schwester sicherlich nicht mehr tragen. Aber vielleicht würde der Verteidiger so weit gehen zu behaupten, Jose selbst hätte seine jüngeren Geschwister infiziert.
    Katherines Hoffnung war nun, dass Jose sich als brauchbarer Zeuge erwies, so dass diese potenzielle Hintertür für die Eltern und den Onkel zugeschlagen würde.
    Aber Kinder waren als Zeugen generell nicht verlässlich. Sie konnten im Zeugenstand plötzlich alles Mögliche behaupten und taten es auch. Fast jeder Anwalt der Dienststelle konnte eine Horrorgeschichte erzählen, die das belegte.
    Ganz abgesehen von diesem Aspekt der Unvorhersagbarkeit war es Katherine zuwider, die geschädigten Kinder weiterer Unbill auszusetzen. Sie würde ein Kind nie als Zeugen einvernehmen, wenn es nicht absolut notwendig war. Aber ihr lag sehr daran, dass die Eltern wegen Missbrauchs verurteilt wurden – sie wollte nicht, dass sie mit Vernachlässigung davonkamen. Also brauchte sie seine Aussage.
    Jose saß da, die Schultern hochgezogen, mit hängendem Kopf.
    »Weißt du, wer ich bin?«
    Er schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken. Zwei Anwälte an einem Vormittag war mehr, als ein Kind zu bewältigen haben sollte.
    »Ich bin Katherine McDonald. Ich handele im Auftrag des Amts für Kindeswohl. Ich bin ACS-Anwältin, aber nicht deine Anwältin. Ms. Jasper ist deine Anwältin.«
    Vermutlich gingen die Spitzfindigkeiten, mit denen sie ihn überschütten musste, über sein Verständnis. Wobei Katherine sogar fand, es wäre besser für ihn, nicht zu verstehen, wie wenig Macht und Möglichkeiten er hatte. Was half es ihm zu wissen, dass er in die Maschinerie der städtischen Behörden geraten war und sein Schicksal jetzt in den Händen von unterbezahlten, überarbeiteten Zahnrädchen lag?
    Er nickte.
    »Hat Ms. Jasper dir gesagt, dass es okay ist, mit mir zu reden?«
    Er nickte wieder. Sie erklärte ihm, dass es ihr Job war, dem Richter seinen Fall vorzutragen. Sie vertrat vor Gericht das Amt für Kindeswohl. Seine Rechtsanwältin, Jeanine, vertrat Jose, seinen Bruder und seine Schwester. Ein dritter Anwalt, vom Gericht ernannt, vertrat seine Eltern, ein vierter seinen Onkel. Sie war sicher, dass er ihr nicht mehr folgen konnte, aber die Zeit lief ihr davon, und so ackerte sie sich weiter hindurch.
    Jose würde als Zeuge auftreten, es war wichtig für ihn, dem Richter die Wahrheit zu sagen, erklärte sie. »Das ist das Familiengericht, also kann dieser Richter niemanden ins Gefängnis stecken. Wenn eine Straftat festgestellt wird, verhandelt das ein anderes Gericht mit anderen Anwälten und einem anderen Richter. Der Richter vom Familiengericht stellt nur fest, ob dir oder deinen Geschwistern etwas angetan wurde, und wenn ja, wie ACS euch am besten helfen kann.«
    Jose blickte auf, und sie erschrak vor der kalten Intelligenz in seinen Augen. Dieser Junge würde bestimmt nicht so tun, als glaubte er, sein Schicksal läge ihr am Herzen. Sie musste weder mit seinen Eltern weiter in der schäbigen Wohnung leben noch sich in ein lausiges Pflegeheim stecken lassen. Er beantwortete ihre Fragen mit einer vernehmlichen Provokation im Ton. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Sie hatte nichts getan, um sich sein Vertrauen zu verdienen.
    Er berichtete, wie er und seine Geschwister bei seinen Eltern und seinem Onkel gelebt hatten. Es war der Onkel, der ihn sexuell missbraucht hatte, wobei er diesen Ausdruck nicht benutzte. Später hatte der Onkel auch Freunde mitgebracht, die das Gleiche taten, als Gegenleistung für Drogen oder Geld. Jose erklärte, seine Eltern hätten von all diesen Aktivitäten in ihrem Haushalt absolut nichts mitbekommen. Das war der Punkt, an dem Katherine ihm nicht glaubte.
    Gemessen am Durchschnitt von Katherines Fällen war dieser nicht besonders schockierend. Sie ging davon aus, dass nichts, was Familienmitglieder einander antun konnten, sie noch zu schockieren vermochte.
    Jose beschrieb seine zahllosen Vergewaltigungen in einer klaren, emotionslosen Sprache. Oft sah er ihre nächste Frage voraus und beantwortete sie schon, bevor sie sie stellte. Das war an und für sich nichts Neues. Die
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