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Die Farbe Der Leere

Die Farbe Der Leere

Titel: Die Farbe Der Leere
Autoren: Cynthia Webb
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mit zwei Metall-Schreibtischen, bestückt mit je einem vorsintflutlich anmutenden Rechner, dazu Akten auf jeder waagerechten Fläche einschließlich des Fußbodens, einen zerschrammten Aktenschrank und einen rostenden Papierkorb.
    Sie rief: »Herein!«, als sie das Klopfen an der Tür hörte. Eine große, runde Frau, den großen, runden Körper in ein mit sanften Farben bedrucktes Kleid gehüllt, betrat den Raum mit einem ziemlich kleinen Jungen an ihrer Seite. Katherine begrüßte das Kind und wies die Fallbetreuerin an, im Flur zu warten. Die Frau nickte und fragte dann rasch: »Haben Sie das mit Jonathan Thomson gehört?«
    Erschrocken betrachtete Katherine die Frau genauer. Jetzt erinnerte sie sich: Sie war die für Jonathan zuständige Fallbetreuerin gewesen. An ihren Namen konnte sie sich nicht erinnern. Sie sah tagtäglich viel zu viele Fallbetreuer.
    »Ich bin Julia Williams.«
    »Ja, natürlich, ich erinnere mich«, sagte Katherine. »Was soll ich über Jonathan gehört haben?«
    Nur zu gern hätte sie jetzt vernommen, dass er wieder auf die Privatschule ging, deren Besuch sie ihm ermöglicht hatte. Er war dort in die neunte Klasse eingestiegen. Seine Noten waren von der ersten Woche an überragend. Er schrieb für die Schulzeitung. Sein Gesangstalent wurde entdeckt und sein Stipendium erweitert, um Stimmbildung und Einzelunterricht mit abzudecken.
    Seine Lehrer hätten sich sicher nicht ungern das Verdienst an seinen Erfolgen zugeschrieben. Aber, so dachte Katherine, sie mussten vom ersten Moment der Begegnung an gewusst haben, dass das alles allein von Jonathan ausging und mit niemandem sonst zu tun hatte. Und dieselben Lehrer waren völlig entgeistert, als er die Schule verließ, und gaben nur höchst vage Erklärungen dazu ab. Ihre Entrüstung stand in keinem Verhältnis zu der erlittenen Zumutung. Es gehen ständig Kinder von Schulen ab, aus guten und aus schlechten Gründen, und in manche von ihnen haben die Lehrer viel Anstrengung investiert. Doch in Jonathans Fall kreideten sie ihm seine Undankbarkeit mit besonderem Ingrimm an.
    Katherine verstand diesen Unmut. Sie empfand ihn selber.
    Doch wie Mrs. Williams' betretener Blick ihr schon verriet, drehte sich diese Neuigkeit nicht darum, dass Jonathan wieder beim Griechischstudium war und die Hauptrolle im Schulmusical spielte. »Er wurde umgebracht, Ms. McDonald. Sie haben doch von dem Serienmörder gehört, der hier die zwei Jungs gekillt hat?«
    Das hatte Katherine nicht. Die New York Times brachte nur die sensationellsten Verbrechen, und sie las weder Boulevardblätter noch die Stadtteilzeitungen der Bronx. Benommen nickte sie, um sich Zeit zu verschaffen, das Gehörte zu verdauen. Nein, Mrs. Williams musste sich irren. Oder Katherine hatte sie nicht richtig verstanden.
    »Er hat auch Jonathan erwischt. Sie haben die Leiche des armen Jungen gestern gefunden.«
    Der offene Kummer in Mrs. Williams' Gesicht entfachte in Katherine einen plötzlichen Zorn. Wir haben es hier jeden Tag mit Tod und ruinierten Kindern zu tun, dachte sie, wir können nicht um jeden Einzelnen weinen. Mit vorgetäuschter Ruhe schickte sie Mrs. Williams aus dem Raum und wandte sich dem Jungen zu, der still neben ihr gestanden hatte. Laut Akte war er dreizehn, sonst hätte Katherine ihn eher auf zehn geschätzt. Jose war unnatürlich dünn und hinkte auf Beinen daher, die an verdrehte Zweige erinnerten. Seine braunen Augen waren gesprenkelt mit goldenen Flecken.
    Sie wies den Jungen an, sich auf den harten Stuhl zu setzen, der neben ihrem Schreibtisch stand, dann besann sie sich und platzierte ihn in ihrem eigenen gepolsterten und bequemeren Bürosessel. Er wirkte darin noch kleiner.
    Sie hatte die medizinischen Berichte schon gelesen. Sie wusste, dass Jose, sein jüngerer Bruder und seine kleine Schwester alle an Herpes, Tripper, Chlamydien und Feigwarzen litten. Das war ein Thema, das sie nicht mit Jose besprechen musste. Sie brauchte von ihm keine Zeugenaussage zum medizinischen Sachverhalt. Nach den Statuten hatten ärztliche Diagnosen in einem Kinderschutzverfahren automatisch Beweiskraft.
    Der Nachweis, dass ein Kind geschlechtlich übertragene Krankheiten hatte, genügte für eine Missbrauchsklage, sofern keine glaubwürdige Erklärung seitens der Eltern vorlag. Rein technisch gesehen musste sie nur die Diagnose zur Beweisaufnahme einreichen und nachweisen, dass das Kind bei den Beklagten, den Eltern und dem ebenfalls dort lebenden Onkel, wohnte. Damit konnte sie
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